Schönborn über Johannes Paul II.: "Ganz großer Papst" mit Schwächen
Johannes Paul II. war ungeachtet mancher Schwächen "einer der ganz großen Päpste": Ein differenziertes, von Bewunderung und Realismus gleichermaßen geprägtes Bild des vor 100 Jahren geborenen polnischen Papstes hat Kardinal Christoph Schönborn in einem ausführlichen Interview der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" gezeichnet. Karol Wojtyla habe in seinem langen Pontifikat von 1978 bis 2005 maßgeblich zum Fall des Kommunismus beigetragen, er habe die katholische Kirche gegenüber anderen Religionen und vor allem dem Judentum geöffnet und durch seine Reisen "Hirte für die ganze Welt" geworden. "Ein schmerzlicher Punkt" in Österreich seien Bischofsernennungen, vom Thema Missbrauch sei Johannes Paul II. "überfordert" gewesen, sagte Schönborn. "Aber auch diese Schwächen waren Teil einer ganz großen Persönlichkeit."
Der am 18. Mai vor 100 Jahren zur Welt gekommene erste slawische Papst "hat die Jahre meines aktiven Dienstes sehr geprägt", so der Wiener Erzbischof im Rückblick. Beim Amtsantritt Johannes Pauls II. war Schönborn ein 33 Jahre junger Theologieprofessor, bei dessen Tod 60 und Mitglied des Kardinalskollegiums. Noch lebhaft in Erinnerung sei "die faszinierendste der über hundert Auslandsreisen" des Papstes - , die erste große Polen-Reise 1979. Dieser Besuch sei nicht umsonst in einem Dokumentarfilm als "Nine Days that changed the world" ("Neun Tage, die die Welt veränderten") gedeutet worden. Millionen Polen hätten seine ermutigenden Worte gehört, die davon ausgehende "Kraft der Veränderung" erlebt, so Schönborn. "Das war zweifellos der Grund, warum damals Moskau entschieden hat: Dieser Mann muss weg, der ist eine tödliche Bedrohung für das kommunistische System."
Doch die Veränderung sei "unaufhaltsam" gewesen. Schönborn erinnerte an die 1981 entstandene Gewerkschaft Solidarnosc, an das Kriegsrecht in Polen und an das Attentat auf den Papst 1981 am Petersplatz. In der Sozialenzyklika "Centesimus annus" habe Johannes Paul II. 1991, kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, "prophetisch" erkannt, dass die Welt jetzt vor einer großen Entscheidung stehe: Geht sie den Weg eines grenzenlosen Kapitalismus oder der sozialen Marktwirtschaft? "Wir wissen, wie die Welt sich entschieden hat: Sie hat sich eindeutig für einen grenzenlosen Kapitalismus entschieden", bilanzierte der Kardinal.
"Kampf um jeden Bischofssitz"
Im Pontifikat Johannes Pauls II. sei die Kirche "wirklich Weltkirche geworden", verwies Schönborn auf dessen Reisen, die Internationalisierung der Kurie und die globalen Kontakte der Papstes: "Er war Hirte für die ganze Welt. Er hatte eine unglaublich starke Stimme, eine große moralische Autorität, auch im Konzert der Völker." Freilich sei es auch eine Zeit gewesen, "in der die nachkonziliare Krise deutlich spürbar geworden ist". Die "Zerrissenheit in der Kirche", die "Spannungen zwischen konservativ und progressiv" könne man sich heute nur schwer vorstellen, erklärte Schönborn. Es habe einen "Kampf um jeden Bischofssitz" gegeben: "Kommt jemand Liberaler oder jemand Konservativer?"
Auch Österreich habe diesen Konflikt intensiv erlebt. Johannes Paul II. sei "ganz eindeutig ein Mann des Konzils" gewesen, aber auch geprägt durch seine Erfahrungen mit den beiden totalitären Regimen Nationalsozialismus und Kommunismus, besorgt um die Entwicklung der Kirche. Angesichts theologischer Entwicklungen, "die auch mir damals als jungem Theologen Sorgen gemacht haben", habe der Papst "gegengesteuert" - durch Bischofsernennungen, durch disziplinäre Maßnahmen und sein eigenes Lehramt.
Bischöfe habe Johannes Paul II. manchmal "an allen Institutionen oder allen Gremien vorbei" ernannt. Das habe zu großen Bischofspersönlichkeiten wie dem Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, oder dem für Paris ernannten "jüdischen Kardinal" Jean-Marie Lustiger geführt - eine "charismatische Entscheidung" von Johannes Paul, wie Schönborn sagte. In Österreich, das "ihm wichtig war", habe der Papst direkt Einfluss genommen. "Und das ist sicher ein schmerzlicher Punkt." Kardinal Franz König, der die Wahl Wojtylas sehr unterstützt habe, hatte laut Schönborns Informationen die Zusage, er werde in die Entscheidung über seine Nachfolge einbezogen. Johannes Paul habe dann allerdings - wie auch immer wieder in anderen Fällen - von seinem Recht Gebrauch gemacht, "sozusagen vertikal zu entscheiden".
Groer war "persönliche Entscheidung"
Die Ernennung Hans Hermann Groers sei wohl "eine sehr persönliche Entscheidung" des Papstes gewesen, berichtete dessen Nachfolger als Wiener Erzbischof. Groer habe zweifellos auch große Verdienste gehabt, "aber es hat sich hier wohl als unglücklich erwiesen, dass es nicht das normale Auswahlverfahren gab". Dennoch glaube er, dass Gott bei den "so umstrittenen" Bischofsernennungen in den 1980er-Jahren trotzdem seine Regie weiterführte. Schönborn: "Ich kann nur im Blick auf mich selber sagen: Der Papst ist nicht unfehlbar mit Bischofsernennungen. Ich weiß selber, wie gebrechlich ich bin und wie viele Fehler ich habe." Auch Petrus sei ein Mann voller Schwächen gewesen, trotzdem habe ihn Jesus erwählt. Gleiches gelte für Johannes Paul II.: "Zweifellos hatte er Schwächen. Welcher Mensch hat sie nicht?"
Beim Papstbesuch 1998 in Österreich, "der nicht mehr die große Begeisterung ausgelöst hat wie der Besuch 1983", hätten die Vorwürfe gegen Kardinal Groer die Kirche bereits enorm belastet und zu Protesten und Austritten geführt. Schönborn dazu: "Wir hatten doch sehr gehofft, dass Papst Johannes Paul II. ein Wort des Trostes und des Mitgefühls auch für die Betroffenen, für die Menschen, die darunter gelitten hatten, finden würde. Dieses Wort ist ausgeblieben." Der Eindruck der Kardinals: "Er war mit dem Thema 'Missbrauch' irgendwie überfordert... Ich glaube, er war ein so lauterer Mensch, dass er sich das nicht vorstellen konnte."
Interreligiöse Meilensteine
Unbestreitbar seien freilich die Verdienste Johannes Pauls II. um den Dialog mit den anderen Religionen z.B. mit den interreligiösen Friedenstreffen in Assisi 1986 und 2002. Und was er für die Verbesserung des Verhältnisses zum Judentum geleistet habe, ist laut Schönborn "mehr, als viele Jahrhunderte es getan haben". Sein Besuch in der römischen Synagoge 1986 sei "ein absoluter Durchbruch" gewesen, der wohl auch auf Karl Wojtylas Schulzeit mit jüdischen Mitschülern und auf seiner Jahrzehnte langen Freundschaft mit einem Shoa-Überlebenden zu tun hatte.
Der vom Papst geführte Religionsdialog sei auf massiven Widerstand bei den Traditionalisten gestoßen, erinnerte der Kardinal. "Aber von seiner Sicht des Menschen her war für ihn jeder Mensch, egal welcher Religion, ein Geschöpf Gottes und daher auch vom Glauben her ein echter Partner". Johannes Paul II. habe einen Satz des Zweiten Vatikanums "wahrscheinlich am häufigsten von allen Texten zitiert" und auch "gelebt", nämlich: "In seiner Menschwerdung hat der Sohn Gottes sich in gewisser Weise mit allen Menschen verbunden" ("Gaudium et spes" 22).
Mensch als "Mitte der Wirtschaft"
Erwähnt werden müssten auch die Impulse, die von der Soziallehre des Papstes ausgingen, so Schönborn weiter: "Die Wirtschaft ist nur dann menschenwürdig, wenn der Mensch die Mitte der Wirtschaft und nicht das Objekt der Wirtschaft ist." Johannes Paul II. sei Ethiker gewesen, "eigentlich mehr Philosoph als Theologe", sagte der Kardinal. Deshalb sei sein Pontifikat auch stark von den Debatten um die Moraltheologie und Familienethik geprägt, "konkret das Thema Empfängnisverhütung".
Von den 14 Enzykliken des Papstes habe ihn "Dominum et vivificantem", jene über den Heiligen Geist, besonders beeindruckt, erzählte Schönborn. Und auch "Dives in Misericordia" mit dem Thema Göttliche Barmherzigkeit spielte für sein Leben eine große Rolle. "Seid Missionare der Barmherzigkeit" - diese Aufforderung "haben wir mit Begeisterung aufgegriffen". Über die Spiritualität des polnischen Papstes sagte der Kardinal, Maria spiele dabei eine ganz große Rolle. "Aber das 'Totus tuus', das seine Papst-Devise ist, dieses Sich-ganz-Anvertrauen an Maria", stehe für die Wegweiserin, die zu Christus hinführt. "Tut alles, was er euch sagt": Dieses Wort Mariens bei der Hochzeit von Kana sei für Papst Johannes Paul die Mitte der Spiritualität, wies Kardinal Schönborn hin. "Da steht eindeutig Christus im Zentrum."
Quelle: kathpress