Jesuit Mertes: Mehr Subsidiarität innerhalb der Kirche notwendig
Die Katholische Kirche müsste das von ihr selbst propagierte Subsidiaritätsprinzip auch auf sich anwenden. Das hat der nach dem kirchlichen Missbrauchsskandal in Deutschland bekannt gewordene Jesuit Klaus Mertes im Interview der Wochenzeitung "Furche" (aktuelle Ausgabe 30/2021) eingefordert. Die Globalisierung habe den Hang zur Zentralisierung verstärkt. Die Kirchenzentrale in Rom erreichten eine Fülle an Anfragen aus allen Teilen der Weltkirche: "Darf ich das machen? Darf der das machen?" Die Folge sei Überforderung, warnte Mertes. "Der einzige Weg, aus dieser Falle herauszukommen, ist die massive Stärkung subsidiärer Entscheidungszuständigkeiten... damit die Spitze nicht erstickt."
Der 66-Jährige Klaus Mertes SJ war ab dem Jahr 2000 erst Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg Berlin, wo er Missbrauchsfälle publik machte und einen Skandal, aber auch eine Aufarbeitungswelle auslöste, danach Direktor des Kollegs St. Blasien im Schwarzwald. Heute ist er Seelsorger in Berlin und wird für sein konsequentes Eintreten für Missbrauchsopfer mit dem Theologischen Preis der diesjährigen Salzburger Hochschulwochen ausgezeichnet.
Wenn der heilige Ignatius (1491-1556), der Gründer des Jesuitenordens, seinem Ordensbruder in Indien, dem heiligen Franz Xaver, etwas schreiben wollte, dauerte der Brief dorthin anderthalb Jahre, wies Mertes hin. Heute genüge ein Mausklick dafür. Wenn allerdings "jeder Außenseiter anonym die Zentrale mit Kleinigkeiten vor Ort befassen kann, dann implodiert der ganze Laden", gab der Ordensmann zu bedenken. Es müsse möglich sein, in bestimmten Ländern Entscheidungen zu treffen, ohne dass sie von der Kirche gleich global übernommen werden. "Wenn alles nur global entschieden und jede kulturelle Pluralität negiert wird, dann wird die Kirche sich auf einen sektiererischen Kern reduzieren, der sich für die wahre Kirche hält", befürchtet Mertes. Manche hielten das für ein Gesundschrumpfen, er selbst "für einen Verrat am Sendungsauftrag der Kirche".
Synodaler Weg enttabuisierte Themen
Auf die Frage, ob der Synodale Weg in Deutschland, angestoßen durch die Erschütterung nach der MHG-Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche, zu etwas führen wird, zeigte sich Mertes optimistisch: Ein Großteil der Bischöfe habe sich von dem Studienergebnis beeindrucken lassen, "dass das institutionelle Problem mit dem Missbrauch tiefe systemische Ursachen hat". Diese hingen wiederum mit Schlüsselthemen zusammen, "die schon seit Jahrzehnten auch Reformthemen sind". Der Jesuit nannte hier Macht in der katholischen Kirche, Beteiligung von Frauen, Sexualmoral und Priesteramtsverständnis.
Wenn die Interessen der Kirche nicht länger vor die Interessen der Opfer gestellt werden, stelle sich die Frage: "Was können wir an uns selbst verändern, um die Schwerhörigkeit gegenüber dem Sprechen von Opfern zu beheben?" Mertes erklärte, er hätte sich "noch vor wenigen Jahren nicht vorstellen können, dass katholische Bischöfe dafür plädieren, homosexuelle Paare zu segnen, oder dass Bischöfe sagen: Die Argumente gegen die Zulassung von Frauen zu Priesterweihe leuchten mir nicht mehr ein." Auch wenn Kardinal Reinhard Marx eine innerkirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit für notwendig erachte, stehe dies für große Veränderungen. Sein Eindruck sei, "dass jedenfalls in der deutschen Kirche tatsächlich Themen enttabuisiert worden sind", befand Mertes.
Dass diese Entwicklung in anderen Gegenden der Weltkirche und gerade auch in Rom mit Argusaugen betrachtet werde, verstehe er, so der Jesuit: "Je weiter der Reformprozess vorangeht, desto tiefer wird auch die Spaltung. Je schwieriger es ist, zu leugnen, dass es da Struktur-Probleme gibt, desto härter wird die Verleugnung."
Mertes warnte vor einer "Hypermoralisierung" der Diskurse in Kirche und Gesamtgesellschaft. Dabei werde die Unterscheidung von Richtig und Falsch vermengt sich mit der von Gut und Böse. "Da müssen wir wieder runter." In den letzten Jahren beobachte er eine verstärkte Spaltung, so Mertes: "Für einige in der Kirche ist man gleich ein 'böser' Mensch, ein Ungläubiger, wenn man bestimmte Positionen der katholischen Morallehre anzweifelt. Diese Spannungen belasten die Kirche gegenwärtig schwer."
"Problematische Aspekte" am Verhalten Woelkis
Zur "Furche"-Frage nach dem "Aufstand gegen Kardinal Rainer Maria Woelki" erklärte Mertes, er persönlich meine, "dass allein der Vertrauensverlust reichen müsste, um zu sagen: Ich habe das Vertrauen nicht mehr, deswegen trete ich zurück". Er sehe beim Kölner Erzbischof zwei problematische Aspekte: Zum einen handle Woelki "wie ein aufgeklärter Monarch, der sagt: Ich erledige das Problem", der sich subjektiv redlich bemüht und gar nicht verstehe, warum er kritisiert wird. "Der noch tiefere Skandal" sei aber, dass der Kardinal in einer entscheidenden Phase des Konfliktes aus der Beteiligung von Betroffenen deren Instrumentalisierung gemacht habe: "Für seine riskante Entscheidung, das erste Gutachten über die Missbräuche in seiner Erzdiözese nicht zu veröffentlichen, holte er sich die Unterstützung seines Betroffenenbeirates" und habe diesen einer schweren Glaubwürdigkeitskrise ausgesetzt.
Als vorbildlich beim Umgang mit Missbrauch erachtet der Experte die Katholische Kirche in Österreich. Kardinal Christoph Schönborn habe 2010 mit der Klasnic-Kommission eine unabhängige Aufarbeitungsstruktur entwickelt, "die Entscheidungskompetenzen über die eigene Zusammensetzung hat, über die Auszahlung von Schmerzensgeldern, den Zugang zu den Akten etc.". Damals sei Schönborn "von deutschen Bischöfen hinter vorgehaltener Hand massiv kritisiert worden", erinnerte sich der Jesuit. "Das schlägt jetzt auf uns in Deutschland zurück."
Quelle: kathpress