
Zulehner: Bedeutung von Religion in Krisenzeiten wird wachsen
Unter dem Eindruck vielfältiger Bedrohungen durch Pandemie, Migration, Kriege, Armut und Umweltkatastrophen wird die Bedeutung von Religion zunehmen. Der Wiener Theologe und Werteforscher Paul Zulehner ist "davon überzeugt, dass das Gewicht der Religionen rasch wachsen wird, nicht zuletzt, weil dem politischen Pragmatismus die Hoffnungsressourcen auszugehen drohen".
In die derzeit angespannte Weltlage hinein hätten Religionsführende gemeinsam zum schonenden Umgang mit der verwundeten Schöpfung aufgerufen, erinnerte Zulehner in einem Interview der "Kleinen Zeitung" (27. November). All diese Weltthemen habe auch Papst Franziskus Präfation in seinen Enzykliken zu Schöpfung und Geschwisterlichkeit, "Laudato si" und "Fratelli tutti", aufgegriffen. Nicht alle, aber immer mehr Mächtige hörten, "manchmal noch verstohlen", auf die unverbrauchte Weisheit der Religionen. Sie sei "für das Überleben der Menschheit wertvoller denn je", erklärte der Religionssoziologe. Nicht zuletzt seien Religionen auch Quelle von Vertrauen, dass die Völker der Erde es gemeinsam schaffen.
Zugleich äußerte Zulehner hohe Wertschätzung für das, was "säkulare" Kräfte leisten - in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung oder Kultur. Aber es gebe darüber hinausgehende existenzielle Fragen nach dem Woher, Wohin und Sinn des Lebens, "die im Überangebot untergehen". In der heutigen bunten weltanschaulichen Landschaft Europas ohne den früheren Automatismus, Christ bzw. Christin zu sein, gebe es immer mehr Menschen, die danach trachten, in ihrer mäßigen Lebenszeit "maßlos glücklich" zu werden. Dabei könne sich untergründig die Angst einstellen, zu kurz zu kommen, sagte Zulehner. Angst jedoch hemme Solidarität.
Die Kirchen stünden hier für eine Alternative. Nämlich: Der Tod ist nicht das Ende, es folgt eine neue, von Liebe geprägte Existenz. Wer darauf setzt, könne sich "mit den Fragmenten des Glücks abfinden, weil dieses Leben nicht alles gewesen sein wird", und das knappe Glück eher mit anderen teilen. Ganz praktische Auswirkungen hat dies nach Einschätzung des Theologen in der aktuellen Frage der Suizidbeihilfe: Rein "Diesseitige" würden - anders als "Jenseitshoffende" - Leid am Ende des Lebens vermeiden wollen und nach Hilfe bei einer vorgezogenen Beendigung des Lebens suchen.
Pandemie und geändertes Lebensgefühl
Auf die Frage, ob die von Polarisierung begleitete Pandemie das Lebensgefühl und das Wertegerüst der Menschen verändert hat, antwortete Zulehner, heute stünden "Freiheitsbesorgte den Gerechtigkeitsbesorgten gegenüber". Solidarischen mit den auf Intensivstationen um ihr Leben Ringenden stünden jene gegenüber, die die Freiheit des Lebens, Arbeitens und der Bildung nicht aufgeben wollen. Es sei nicht gut für die Gesellschaft, wenn der Streit um diese Werte sprachlich oder physisch gewalttätig wird. "Alle müssen lernen, dass die Werte nie in Reinkultur realisiert werden können, sondern nur in abwägenden Kompromissen", führte Zulehner aus. Unantastbar bleiben sollte jedoch die Würde jedes Menschen bleiben - "vor jeder Leistung und in aller Schuld".
Nach der Beobachtung des Werteforschers hat die Pandemie das Gefühl der Verletzlichkeit verstärkt; die eigene Sterblichkeit sei vielfach sehr nahe gerückt. Vermehrt hätten sich auch Ängste - um den Arbeitsplatz, vor Denunzianten, auch vor Ignoranten. Gewachsen sei freilich auch die Dankbarkeit. Zulehner erzählte von einer Frau, die dies in seiner Onlinestudie "Bange Zuversicht" so formulierte: "Ich bin dankbar, dass mir meine Eltern ein Gottvertrauen mitgegeben haben und ich nicht unter Ängsten vor Krankheit und Armut leide. Ich habe immer das Bild vor mir: in Gottes Händen geborgen zu sein." Zulehner dazu: "Könnte es sein, dass unter der Oberflächlichkeit der Kultur sich doch eine namenlose Sehnsucht verbirgt, in guten Händen geborgen zu sein?"
Ausstrahlende Minderheit werden
Zugleich sei an den Daten über bekennende Christen offenkundig, dass es in Europa eher suchende "Pilger" als angekommene "Entschiedene" gebe. Viele seien - mit den Worten des Prager Religionssoziologen Tomas Halik - "Etwasisten": Irgendetwas Höheres wird es schon geben. Papst Franziskus habe mit seiner Aussage recht, dass sich die Kirche nicht in einer Ära des Wandels befindet, sondern im Wandel einer Ära. "Es geht also nicht um kleine Änderungen, die mit zaghaften Reförmchen gemeistert werden könnten", so Zulehner. In der gegenwärtigen Übergangszeit habe es "wenig Sinn, jammernd von 100 Prozent herunterzurechnen, die es so wohl nie gegeben hat".
Es brauche in der Kirche Freude über alle einzelnen, die sich der Bewegung anschließen, die Jesus selbst ausgelöst hat, "damit es - wie die Präfation von Christkönig singt - mehr Gerechtigkeit, Freude und Frieden auf der Welt gibt und die Schöpfung bewahrt bleibt". Zulehner geht wieder vom "biblischen Normalfall" einer Minderheit aus, bei dem Jesus die Gläubigen als "Licht für die Welt" und "Salz der Erde" bezeichnete. "Dabei bleibt entscheidend, dass die Kirche das Licht Christi nicht missbräuchlich verdunkelt und das Kirchenleben schmackhafter wird."
Quelle: kathpress