Caritas-Direktoren: Pandemie wirkt wie soziales Brennglas
Eine Verschärfung der ohnehin schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation von Menschen am Rand der Gesellschaft beobachten die Direktoren von zwei diözesanen Caritas-Verbänden, Herbert Beiglböck und Walter Schmolly. "Wie unter einem Brennglas" zeige die Corona-Pandemie Sorgen erregende "Entwicklungen, die schon länger im Gange sind", erklärten beide in Jahresrückblick-Interviews mit österreichischen Tageszeitungen. Die Caritas-Experten bezeichneten dabei das Wort der "Spaltung" als untaugliche Beschreibung für die Überwindung der gespannten gesellschaftlichen Situation und machten sich beide für mehr Nachdenken, Dialog und Kompromisse sowie für ein "Brückenbauen" stark.
Menschen am Rande der Gesellschaft hätten sich infolge der Gesundheitskrise aus eigenen Stücken noch mehr zurückgenommen als sonst - aufgrund des Gefühls, von der Teilhabe ohnehin ausgegrenzt zu sein, äußerte der Grazer Caritas-Direktor Beiglböck in der "Kleinen Zeitung" (Donnerstag) seine Wahrnehmung der Dinge. Viele Menschen seien verunsichert bis verängstigt dadurch, dass sie den eigenen Lebensstil und ihre Lebensperspektive nicht in der bisher durchgeplanten Weise aufrechterhalten können.
Als "unruhig, aufgeregt und verunsichert in der Frage, was unser gemeinschaftliches Leben zusammenhält" beschrieb Beiglböck den gegenwärtigen Zustand der Gesamtgesellschaft. Man könne "mit Konflikten und Spannungen immer schlechter umgehen" und laufe Gefahr, "unterschiedliche Positionen, selbst wenn sie nur vorläufig sind, nicht mehr fruchtbar wahrzunehmen, sondern uns gegenseitig auszugrenzen". Bedenklich sei, dass alles "definitiv" sein müsse, befand der Grazer Caritas-Direktor, denn: "Wenn sich jemand korrigiert, ist das schon eine Niederlage. Dabei kann das ja auch ein wichtiger Prozess des Erkenntnisgewinns sein."
Direkt auf die Impfpflicht angesprochen erklärte Beiglböck, er halte sie für eine "angemessene Maßnahme", wobei jedoch die sich daraus ergebenden Spannungen eines "sehr verantwortungsvollen" Umgangs bedürften. Bei der Caritas der Diözese Graz-Seckau sei man darum bemüht, jene Mitarbeitenden, die sich auch weiterhin nicht impfen lassen wollten - im Pflegebereich gehören dazu 10 bis 15 Prozent des Personals - im Arbeitsprozess zu halten. "Wir als Caritas wollen keinen Zwang, führen aber viele Gespräche", betonte der Caritas-Direktor.
Schere öffnet sich weiter
Beiglböcks Feldkircher Amtskollege Walter Schmolly sprach im Interview mit der "Neuen Vorarlberger Tageszeitung" (Mittwoch) von einer Schere zwischen Arm und Reich, die sich "immer weiter auftut". Immer mehr Menschen, die bei der Caritas Hilfe suchen, seien "richtiggehend erschöpft" und stünden unter hohem psychischem Druck. Deutlich machten dies besonders die Neuanfragen bei der Caritas-Suchtberatung, die um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen seien. Dazu komme auch der soziale Druck. "Einsamkeit und Isolation, eigentlich Themen bei älteren Menschen, aber bei Weitem nicht nur, haben zugenommen." Bei Kindern seien besonders jene aus Familien mit weniger Ressourcen gefährdet, in der Schule und Ausbildung "den Anschluss zu verlieren".
Zum Impf-Thema befand der Vorarlberger Caritas-Direktor, in Österreich könne man eine "Spannung" zwischen bürgerlichen Freiheitsrechten und der Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl erleben. Einerseits werde nach Impfsolidarität gerufen, zugleich aber habe derselbe Staat im Fall der Suizidbeihilfe die Selbstbestimmung zum obersten Wert erklärt. Ein reflektierter Umgang mit der Impfpflicht sei vonnöten, was primär ein "Runter vom Gas" bedeute: Emotionen und moralischen Druck gelte es rauszunehmen, "um einander wieder wahrnehmen zu können", so Schmolly, denn: "Jeder Mensch ist ein Einzelfall und nicht nur ein Impfgegner oder Impfbefürworter. Wir dürfen nicht dem Zweifel verfallen, ob wir es noch gut miteinander meinen."
Um die "Kultur des Dialogs und der Sachlichkeit" zu stärken, habe die Caritas der Diözese Feldkirch einen "Dialograum Impfen" eingerichtet, berichtete Schmolly. Bei dem erst begonnenen Projekt gehe es darum, "im Gespräch mit dem Einzelnen zu hören, wo sie stehen und warum sie denken, wie sie denken". Das Leben in einer inklusiven Gesellschaft erfordere das Erbauen von Brücken, jedoch auch ein Aushalten dessen, "dass Verschiedenheit nicht nur schön und bunt, sondern auch eine Zumutung sein kann".
Religion zur Ressource machen
Beide kirchlichen Sozialexperten kamen auch auf die Rolle der Kirche und des Glaubens in der Corona-Krise zu sprechen. Schmolly verwies darauf, dass das Spirituelle und die Religion eine "wichtige Ressource" seien, um die Grundhaltung der Zuversicht und des Vertrauens in die Kraft des Guten aufrechtzuerhalten - mit welchen die Suche nach dem Verbindenden und gegenseitiger Beistand erst möglich seien.
Beiglböck bemerkte kritisch, dass die Kirche bislang "zu sehr die Gefahren und zu wenig die Chancen gesehen hat, die Gesundheitskrise im Licht des Evangeliums zu deuten". Ihre Vorgehensweise sei "sehr stark von Vorsicht geprägt" gewesen, sie habe das Nahesein bei den Menschen zu wenig erfahrbar gemacht und aufkommende existenzielle Fragen übersehen: etwa jene nach der Gestaltung des Lebens, des Umgangs mit dem Leid, der Entwicklung von Demut und Bescheidenheit sowie auch nach dem Leben mit Unwägbarkeiten. Nach christlichem Verständnis könne auch ein verletzliches Leben "ein gutes Leben" sein, "weil es von Gott zur Vollendung geführt wird", betonte der Grazer Caritas-Direktor. Auch für die Kirche habe die Pandemie somit schon länger vorhandene Schwächen deutlich gemacht.
Quelle: kathpress