Medienethikerin: Guter professioneller Journalismus braucht Zeit
Guter professioneller Journalismus braucht Zeit: Gerade bei Krieg und Krisen ist es unumgänglich, Geschehnisse einzuordnen, Informationen und Propaganda so gut wie möglich zu trennen. Das betonte Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München, in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Die Furche" über "Medien im Krieg" (aktuelle Ausgabe). Es gelte, unterschiedliche Perspektiven der Wahrheit mittels qualitätsvoller Recherche aufzuzeigen und auf die Würde etwa von Opfern zu achten. Zugleich warnt die gebürtige Innsbruckerin davor, dass Journalismus zu Aktivismus wird. Dadurch sei die Möglichkeit der Meinungsbildung durch die Konsumierenden selbst gefährdet.
Heute gebe es ein Bewusstsein dafür, dass Wahrheit auch perspektivisch ist, erklärte Paganini anhand des Ukraine-Krieges: "eine Wahrheit hinsichtlich dessen, wie die Anteile der Kriegsparteien an den aktuellen Ereignissen sind, wer wofür verantwortlich ist, wie Zusammenhänge genau zu denken sind". Die meisten Menschen beschäftigen "die Verbrechen an der Menschenwürde, dass unschuldige Zivilisten verfolgt und getötet werden. Das ist eine ganz andere Art von Wahrheit, wo wir unmittelbar sehen können, dass diese Art von Aggression falsch ist." Für Paganini bedeutet der Krieg deshalb einen "Zivilisationsbruch": Der Aggressor entscheide, den Raum des friedlichen Argumentierens zu verlassen.
Kriegsberichterstattung sei immer schon ein Mittel der Kriegsführung zum Verschaffen eines Vorteils gewesen. "Die europäischen Medien bemühen sich aber - das ist zumindest mein Eindruck -, mit dem Material, das aus der Ukraine kommt, differenziert umzugehen." Paganini spricht sich für eine klare Trennung der Aufgaben aus: "Aufgabe freier Medien ist es, aus diesen interessengeleiteten Berichten das an Information herauszufiltern, was die Menschen hier in Österreich brauchen, um sich ihre Meinung zu bilden."
Distanz und Positionierung
Es brauche in der Berichterstattung beide Charaktere, um ein entsprechend ausgewogenes Bild zu bekommen: Journalistinnen und Journalisten, die emotional weniger beteiligt sind, distanzierter berichten und jene, die sich positionieren, sobald es um Menschenrechtsverletzungen geht. "Wovor ich warnen würde, ist, dass Journalismus zum Aktivismus wird. Denn letztlich sollten die Bürgerinnen und Bürger sich selbst ihre Meinung bilden, anhand der Informationen."
Paganini riet, zwischen dem zu unterscheiden, was Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj sagen, und dem, was de facto passiert. "Wenn ich in einer Gesellschaft lebe, die sich auf bestimmte Grundwerte verständigt hat, und diese Werte auch teile, dann kann ich mich dazu nicht neutral verhalten." Etwas anderes sei es, die Positionen so darzustellen, wie sie von den jeweiligen Personen gemeint waren. "Das sind unterschiedliche Ebenen, die wir nicht vermischen sollten."
Zudem führe die Beschleunigung durch Echtzeit-Beiträge via Social Media dazu, "dass das Publikum diese schnelle Berichterstattung auch vom traditionellen Journalismus erwartet. Das halte ich für ein großes Problem", erklärte Paganini: Diese Geschwindigkeit stehe zu grundlegenden Standards des Journalismus wie Gründlichkeit der Recherche oder dem Zwei-Quellen-Prinzip in großer Spannung. Es sei wichtig, sich als Gesellschaft zu überlegen, welche Erwartungen an professionellen Journalismus gestellt werden. "Wir dürfen als Gesellschaft den Journalismus nicht vor Social Media hertreiben. Wir müssen uns vielmehr bewusst sein: Wenn wir guten Journalismus wollen, dann können wir nicht die Geschwindigkeit erwarten, die wir von Social Media gewohnt sind."
Social-Media-Krieg
Die erste Social-Media-Beteiligung an einem Krieg gab es schon 2010 in Afghanistan, erinnerte Paganini. Damals machte der US-amerikanische Fotojournalist Damon Winter Bilder vom Krieg mit seinem Smartphone, um näher an den Soldaten dran zu sein, sie weniger zu stören und die Situation weniger zu verfälschen als mit kompletter Fotoausrüstung. "Und er sagte auch: Die Soldaten posten ja selbst diese Bilder auf Facebook." Heute sei ein stärkerer Einsatz von Social-Media-Kanälen zu beobachten. Andere Konflikte mit Social-Media-Beteiligung gebe es etwa in der Türkei, im Jemen, Sudan, in Eritrea oder im Ost-Kongo.
Die Macht der Bilder
Im Hinblick auf die andere Form des Erzählens, des "Storytelling" per Social Media, verwies Paganini auf die Emotionalisierungs- und Erlebnisfunktion von (bewegten) Bildern. Sie vervollständigen den Gesamteindruck. "Aber diese Bilder müssen kontextualisiert werden, sonst sind sie anfällig für Fehldeutungen." Die Bildkompetenz sei im Publikum deutlich geringer ausgeprägt als die Textkompetenz. Bilder vermitteln "eine Art Augenzeugenqualität", obwohl das unmittelbare Dabeisein fehle.
Dass eine bestimmte Interpretation über die Bilder vermittelt wird, "dieses Bewusstsein müssen wir stärken", plädierte die Medienethikerin. Sonst laufe man Gefahr, Dinge falsch einzuordnen. "Und was Propaganda am meisten nützt, ist unkritisches Medienverhalten", erklärte Paganini: Wenn keine zweite, dritte Quelle konsultiert werde, sondern ersten Informationen, Bildern, Texten, die einen erreichen, geglaubt werde. Und nicht zuletzt, wenn man sich in Social Media nicht mit Gegenmeinungen konfrontieren will.
Zur Vorsicht mahnte Paganini auch bei brutalen Bildern, weil sie auf vulnerable Menschen sehr negative Auswirkungen haben können. Paganini nannte hier Überlebende des Zweiten Weltkriegs, Menschen mit Migrationshintergrund und Kriegserfahrung, aber auch Kinder, die diese Ereignisse nicht einordnen können. Es bestehe "die Gefahr, dass sie durch Trigger-Reize, die von diesen Bildern kommen, in Krisensituationen geraten". Zudem gelte es, die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten, noch lebenden oder toten Menschen zu achten. Trotz der wichtigen Funktion von "Schockbildern", zu zeigen, wie schlimm der Krieg ist, dürfe das kein Mechanismus sein, ethische Standards über Bord zu werfen. Dazu komme, dass Menschen, die emotional von bestimmten Bildern überfordert werden, sich zurückziehen und nichts mehr davon wissen wollen oder alles für Fake halten.
Verantwortungsebenen unterscheiden
Bei der Frage nach angemessener Berichterstattung gelte es, die Verantwortungsebenen zu unterscheiden: Die Journalisten vor Ort sind mit extremem Druck, Stress, Lebensgefahr konfrontiert. "Journalisten in Österreich und Deutschland sind aber nicht unmittelbar an der Kriegsfront, sie können und sollten auswählen, sie haben auch Zeit nachzudenken. Da scheint es mir zentral, die Persönlichkeitsrechte der dargestellten Opfer so hoch wie möglich zu stellen", unterstrich Paganini. Zudem müssen Bilder besser durch Texte eingeordnet werden. Wenn sich Menschen heute nur die Bilder anschauen, würden diese nicht mehr die ergänzende Funktion erfüllen, die sie ursprünglich hatten.
Quelle: kathpress