Kittsee: Karpatendeutsche erneuern Bekenntnis zur Versöhnung
Dass ein gemeinsam erlebtes Trauma durch Dialog und ständige Versöhnungs- und Beziehungsarbeit in ein Fundament für Frieden in Gegenwart und Zukunft verwandelt werden kann, haben am Samstag Vertriebene der deutschsprachigen Bevölkerung der heute slowakischen Ortschaft Most pri Bratislave (Bruck a. d. Donau) aufgezeigt. Bei ihrem jährlichen Treffen "Spuren der Erinnerung" an der Staatsgrenze zwischen dem Preßburger Stadtteil Petrzalka (Engerau) und Kittsee, wo vor zwei Jahren ein Gedenkkreuz errichtet und eine Linde gesetzt wurden, erinnerte Überlebende, deren Nachfahren sowie Gäste aus der Slowakei in einem Gedenkakt mit Gottesdienst an die Ereignisse im Juli 1945. Die Teilnehmer gedachten ihrer Verstorbenen und bekräftigten ihre längst vollzogene Versöhnung mit der Vergangenheit.
"Friede braucht Erinnerung", so die Überzeugung des Salesianerpaters Alois Saghy, der als treibende Kraft die Treffen organisiert. Er selbst war als Kind aus Bruck vertrieben worden - "gemeinsam mit meiner hochschwangeren Mutter, die sechs Tage nach der Ankunft meine Schwester zur Welt brachte", so der Ordensmann. Viele Menschen hätten in dieser Zeit sehr viel mitgemacht - was auch für die heutigen Vertriebenen aus der Ukraine zutreffe, zog Saghy Parallelen. "Versöhnung kann man nicht erzwingen, das braucht Zeit. Aber sie braucht auch Einsicht und Willen", zitierte Saghy den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. Berichte von anwesenden und über Telefon zugeschalteten Zeitzeugen beleuchteten Stationen der Vertreibung, Flucht, Ankunft und Aufnahme in Österreich sowie das Ringen um Existenzsicherung und Integration.
Europa kann "nur im Geiste der Vergebung, der Offenheit, der Demut und der Völkerverständigung wirklich Leben entfalten", schrieb in einem Grußwort der Eisenstädter Bischof Ägidius Zsifkovics. Er lobte die Versöhnungsbereitschaft der Vertriebenen aus Bruck an der Donau und deren Nachfahren: "Ohne Ihr christliches Zeugnis und ohne den Einsatz vieler Christen würden wir auch heute nach einem dreiviertel Jahrhundert vor einem großen Scherbenhaufen stehen", würdigte der für die Gemeinde Kittsee zuständige Ortsbischof, der in der Österreichischen Bischofskonferenz für die Bereiche Flucht, Migration und Integration sowie Europa zuständig ist.
Botschafterin: Thema bleibt aktuell
Eine Grußbotschaft an das Treffen hatte auch Österreichs Botschafterin in der Slowakei, Margit Bruck-Friedrich, an die bei der Gedenkveranstaltung Versammelten gerichtet. Auch sie verwies auf die hohe Aktualität der Erfahrungen rund um das Kriegsende 1945. Ähnlich wie damals Frauen, Kinder und alte Menschen mit einem Koffer, Rucksack oder Kinderwagen unterwegs gewesen seien und erschöpft und erschrocken über das Erlebte oder auch mit Angst vor der ungewissen Zukunft unterwegs waren, sei dies nun auch bei den Ukraine-Flüchtlingen wieder erlebbar.
Als einzigen Weg für Vergebung und Versöhnung bezeichnete die Diplomatin das aktive Erinnern, die aktive Auseinandersetzung mit Vergangenem und die aktive Suche nach Gespräch und Begegnungen.
Ein spezieller Ehrengast war erstmals auch der amtierende Bürgermeister von Most pri Bratislave/Bruck an der Donau, Frantisek Masny. Dass sich die Überlebenden der ehemaligen deutschsprachigen Bevölkerung auch 77 Jahre nach ihrer Vertreibung weiterhin regelmäßig treffen, bedeute für ihn Freude und Hoffnung auf weiteren Kontakt, erklärte er. Den beiden Organisatoren des Treffens - P. Saghy und Karl Putz, Bundesobmann der altösterreichischen Landsmannschaft der Karpatendeutschen - dankte der Bürgermeister für deren Besuch in Bruck eine Woche zuvor, bei dem er unter anderem drei bisher erschienene Bücher mit Berichten von Zeitzeugen aus dem Ort entgegengenommen hatte.
Vertreibung vor 77 Jahren
Von rund 150.000 Deutschsprachigen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Slowakei lebten, wurden nach dessen Ende rund 120.000 aufgrund der "Benesch-Dekrete" vertrieben, 10.000 weitere kamen im Krieg, auf der Flucht oder in Lagern um, jeweils 5.000 wurden vermisst oder verblieben in der Slowakei. Dies umschreibt auch das Schicksal des auf der Schüttinsel gelegenen vormals deutschen Ortes Bruck: Anfang Juli 1945 wurden die rund 2.000 Bewohner gewaltsam zusammengetrieben und zu einem Fußmarsch nach Preßburg/Bratislava gezwungen. In ihrem Dorf wurden Slowaken angesiedelt, es ist heute dank seiner Stadtnähe ein Zuzugsgebiet und auf 4.000 Bewohner angewachsen.
Damals nach Kriegsende wurden die Vertriebenen nach ihrer Ankunft in der heutigen slowakischen Hauptstadt drei Wochen lang in einer aufgelassenen, desolaten Patronenfabrik eingesperrt, dann am 23. Juli 1945 bis an ein Feld vor der österreichischen Grenze bei Kittsee getrieben, wo sie übernachteten, ehe am Folgetag die russischen Besatzer den Übertritt nach Österreich gewährten. Viele fanden später in den Grenzorten oder in Wien eine neue Heimat, andere in Deutschland oder in Übersee. Die Überlebenden und ihre Nachkommen pflegen bis heute regelmäßige Treffen, an denen meist auch der emeritierte Linzer Bischof Ludwig Schwarz - der selbst aus der Ortschaft stammt und als Fünfjähriger mit seiner Familie fliehen musste - teilnimmt.
Bis zu 3 Millionen als Nachfahren betroffen
Insgesamt 500.000 Vertriebene wurden nach Kriegsende 1945 in Österreich angesiedelt, vor allem in Ober- und Niederösterreich sowie in Wien. "Hochgerechnet gibt es heute 2,5 bis 3 Millionen Menschen in Österreich mit einem Vertreibungshintergrund aus dieser Zeit", berichtete bei der Gedenkveranstaltung der Präsident des Verbands der deutschen altösterreichischen Landsmannschaften in Österreich (VLÖ), Norbert Kapeller. Wichtig sei aus Sicht der Betroffenen und ihrer Nachgeborenen, "dass wir nicht aus der Geschichte vertrieben werden", wozu auch die Treffen und die Existenz von Gedenkstelen beitragen sollten.
Zwischen 150 und 180 regelmäßige Erinnerungstreffen wie das der "Brucker" gibt es österreichweit weiterhin, bei ausnahmslos allen ist der Rahmen ein religiöser mit einem katholischen oder evangelischen Gedenk- oder Dankgottesdienst als Teil des Programms. "Vielfach sind es Heimatpfarrer oder später zu Priestern geweihte Vertriebene, die da weiter noch aktiv sind", sagte Kapeller im Gespräch mit Kathpress. Immer steht zudem auch der Versöhnungsgedanke im Vordergrund. "Die Betroffenen wurden zwar alle entschädigungslos verjagt, vertrieben und gedemütigt, kaum jemand ist jedoch gram oder sinnt auf Vergeltung", so der VLÖ-Präsident. Wegweisend sei dabei die schon 1950 ratifizierte "Charta der Heimatvertriebenen", bei der sich die Vertriebenen endgültig von Rache und Vergeltung distanziert haben.
Quelle: kathpress