Tagung zeigt Forschungslücke um Ignaz Seipel
Kontroversen sowie erheblichen Forschungsbedarf rund um den früheren österreichischen Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel (1876-1932) hat ein internationales Symposium aufgezeigt, das vergangenen Freitag und Samstag an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz stattgefunden hat. 14 renommierte Vortragende aus dem In- und Ausland beleuchteten dabei die Figur des Priester-Politikers, der "im Spannungsfeld von Kirche, Partei und Politik" stand, wie auch der Titel der von den Grazer Kirchenhistorikern Prof. Michaela Sohn-Kronthaler und Markus Zimmermann konzipierten Tagung mit rund 70 Gästen lautete.
Ignaz Seipel, Sohn eines Wiener Fiakers und 1899 zum Priester geweiht, startete zunächst eine akademische Laufbahn als Professor für Moraltheologie in Salzburg ab 1908, zeichnete der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber den Beginn seines Werdegangs nach. Er galt als distanziert, baute sich jedoch zusehends ein außeruniversitäres Netzwerk auf und wurde bereits als Nachfolger von Balthasar Kaltner (1844-1918) als Salzburger Erzbischof gehandelt. 1918 kehrte er jedoch an die Wiener Katholisch-Theologische Fakultät zurück und verließ schon bald darauf die Wissenschaft in Richtung Politik.
Bereits für den Übergang von der Monarchie zur Republik im November 1918 dürfte Seipel eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben, nahm Staatsarchiv-Direktor Helmut Wohnout in seinem Vortrag Bezug auf historische Belege, wonach er der Verfasser der Verzichtserklärung Kaiser Karls I. (1887-1922) war. Auch für die Konzeption des Österreichischen Bundesverfassungsgesetzes von 1920 habe der "Staatsdenker" Seipel - der schon in seinem Werk "Nation und Staat" von 1916 den Begriff der Nation als "Schicksalsgemeinschaft" charakterisiert hatte - eine Rolle gespielt, legte der Wiener Rechtshistoriker Thomas Olechowski dar.
Hinsichtlich Seipels politischer Funktionen - von 1921 bis 1930 als Christlichsozialen-Parteiobmann und zwei Mal (1922-1924 und 1926-1929) Bundeskanzler - beleuchtete der Hildesheimer Historiker Michael Gehler zunächst dessen diplomatisches Wirken. Als "außenpolitischer Drahtseiltänzer" habe Seipel mit einer strikten Neutralitätspolitik zwar eine ausgewogene Außenpolitik bewirkt, dabei aber eine "Unversöhnlichkeit in der Innenpolitik" in Kauf genommen. Wirtschaftspolitisch habe Seipel mit seinem Glauben an die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Österreichs inmitten der Krisen und Probleme der Ersten Republik die Grundlage für das Genfer Sanierungswerk 1922 geschaffen, berichtete der Grazer Wirtschaftshistoriker Walter M. Iber.
Wie die Sozialdemokratie mit Seipel umging, nahm der Historiker und Politologe Florian Wenninger vom Wiener Institut für Historische Sozialforschung unter die Lupe. Zunächst unterschätzt, sei er von dieser Seite ab 1922 zunehmend als "Klassenfeind", "Verschwörer im Ausland", "Obmann einer korrupten Partei" und schließlich als "Putschist" gesehen worden. Über Seipels "Zerrbild" in zeitgenössischen Karikaturen kam Johannes Schönner vom Wiener Karl von Vogelsang-Institut zu sprechen. Die Zeithistorikerin Lucile Dreidemy (Wien und Toulouse) stellte Seipels Aussagen zur "wahren Demokratie" kritisch in den Kontext autoritärer Herrschaftssysteme. Aufgrund seiner Kontakte zu den Heimwehren und seiner Sicht auf den italienischen Faschismus und den Ständegedanken sei Seipel auch eine "Schlüsselfigur" für die Vor- und Entstehungsgeschichte des Austrofaschismus.
Ganz konträr dazu war seine hohe Reputation beim Heiligen Stuhl, der Seipel als "Ideal eines Priesterpolitikers" sah. Dazu habe, zeigte Jürgen Steinmair durch eigene Forschungen im Vatikan-Archiv, die beinahe kritiklose Bewunderung durch den von 1922 bis 1936 in Wien wirkenden Apostolischen Nuntius Enrico Sibilia beigetragen. Ähnlich war auch die Haltung der katholischen Tschechoslowakischen Volkspartei, führte der Prager Historiker Jaroslav Sebek aus, der hier Vergleiche zum Priesterpolitiker Jan Srámek (1870-1956) zog. Prägenden Einfluss Seipels auf den parteipolitischen Katholizismus auch im deutschsprachigen Ausland wies der Fribourger Zeithistoriker Siegfried Weichlein nach.
Innerhalb der ÖVP nach 1945 fehle es an Seipel-Memoria ähnlich wie auch sein intellektueller Gegenspieler Otto Bauer (1881-1938) von der SPÖ nicht kommemoriert wurde: Das verdeutlichte beim Symposium Dieter A. Binder, Historiker an den Universitäten Graz und Budapest. Der Forscher sprach von einer "entsorgten Geschichte", die zugunsten eines günstigen Koalitionsklimas im Nachkriegsösterreich geopfert worden sei.
Ein riesiger, noch weiter zu erforschender Fundus stellen die Tagebücher dar, in denen Seipel von 1916 bis zehn Tage vor seinem Tod 1932 sein Innenleben und seine Aktivitäten als Priester, Gelehrter und Politiker verzeichnete. Laut Tagungs-Organisatorin Michaela Sohn-Kronthaler, die an der Uni Graz neben dem Kirchengeschichte-Institut auch das hier durchgeführte Editionsprojekt dieser Schriften leitet, finde man darin auch die Erschließung politischer, kirchlicher und gesellschaftlicher Netzwerke.
Nach den Ereignissen um den Justizpalastbrand 1927 habe sich Seipel in diesen Selbstreflexionen vermehrt mit der existenziellen Frage "Seelsorge oder Politik" auseinandergesetzt, berichtete Sohn-Kronthalers Kollege Markus Zimmermann. Weiters zu erforschen sei außerdem auch, inwiefern Seipel seine Priesterrolle bei liturgischen Funktionen und Predigten als politisches Instrument genutzt habe.
Quelle: kathpress