Theologe Zulehner: Religionen müssen auch politisch sein
"Die Frage an alle Religionen lautet nicht, ob sie politisch sind, sondern wie." - Das hat der Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul Zulehner am Dienstagabend im Wiener Rathaus im Rahmen einer Feier zum 80. Geburtstag des früheren Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), Anas Schakfeh, betont. An dem Festakt nahmen u.a. auch der frühere Bundespräsident Heinz Fischer und Nationalratspräsdident Wolfgang Sobotka teil.
Prof. Zulehner brach eine Lanze für Religionen, "die sich in einer permanenten 'reformatio' aus ihren Quellen selbst erneuern, die in einer großen Ökumene aller Religionen eine Art Friedensbewegung, Umweltbewegung und Gerechtigkeitsbewegung Gottes auf Erden sind". In diesem Sinne plädierte der Theologe für einen "politischen Islam" oder auch ein "politisches Christentum".
Die Führer und Mitglieder aller Religionen seien zugleich gut beraten, der Versuchung zu widerstehen, Gott für die Rechtfertigung verbrecherischer Gewalt zu missbrauchen, so Zulehner. In diesem Zusammenhang erneuerte der Theologe u.a. seine Kritik am Moskauer Patriarchen Kyrill. Es sei ein "Verrat am Evangelium", wenn ein Patriarch für einen völkerrechtsverachtenden Kriegsherrn den "Oberministranten" spielt, so Zulehner unter Verweis auf Papst Franziskus.
Aber nicht nur die Russisch-Orthodoxe Kirche, die selbst als eine "Kirche der Märtyrer" versteht und in der Zeit der Diktatoren Hitlers und Stalins unsäglich gelitten hat, habe heute Blut an den Händen. Dasselbe trifft historisch auch die christlichen Kirchen in Europa zu. Im grausamen Dreißigjährigen Krieg haben die Angehörigen von Katholischer und Evangelischer Kirche im Namen Gottes vergewaltigt und gemordet.
Auch der Islam sei vor einem Missbrauch Allahs zur Rechtfertigung von bösartiger Gewalt nicht gefeit. Der brutale Krieg in Syrien bezeuge dies in tragischer Weise. Die gegenwärtigen multiplen Krisen und Herausforderungen würden bei vielen Menschen Angst erzeugen. "Der Menschheit geht der Vorrat an Hoffnung aus", so Zulehner. Umso dringlicher brauche es Quellen der Hoffnung. Und er fragte: "Kann auch die Islamische Religionsgemeinschaft, können Religionen gemeinsam eine Quelle der Hoffnung für die taumelnde Welt sein?"
Wie Prof. Zulehner weiter sagte, sei gute Politik, die dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Bewahrung dient, unlösbar mit Bildung verbunden. Eine gediegene Bildung der Angehörigen der Islamischen Glaubensgemeinschaft "war und ist folglich nach wie vor für Anas Schakfeh ein Herzensanliegen".
Frauenfrage entscheidend
Prof. Zulehner zeigte sich in seinen Ausführungen überzeugt, dass für die Entwicklung des Islam vor allem die Frauenfrage entscheidend sein wird. Einige Fragen, die er in den Raum stellte: "Welche Frauenbilder haben Muslime und Muslimas in Österreich? Warum entwickeln sich junge Muslimas und Muslime in ihrem Rollenverständnis in Österreich anders, also auseinander? Warum nimmt die Zahl junger islamischer Männer zu, die auf den anatolischen Heiratsmarkt ausweichen, um zu demonstrieren, dass sie den Traditionen ihrer Väter und Großväter treu sein wollen? Welche Rolle spielt bei solchen Entwicklungen der islamische Religionsunterricht in den Schulen? Oder ist gar der beste Lernort für junge Muslimas nicht die freundschaftliche Begegnung mit Mitschülerinnen, wofür vieles spricht?"
Zulehner berichtete, dass er 2011 von der Anas Schakfeh Privatstiftung nach Wien-Liesing eingeladen worden, um vor jungen islamischen Studierenden Ergebnisse der österreichischen Religionsstudie 2010 zu präsentieren, die den Titel trug: "Muslimas und Muslime im Modernisierungsstress". Im Anschluss an die Präsentation habe sich eine rege Diskussion entwickelt. Er sei überrascht gewesen, so Zulehner, dass sich am Gespräch fast nur junge Muslimas beteiligten. Zugleich verwies er auf eine Bemerkung Schakfehs am Ende seiner Amtszeit als IGGÖ-Präsident: "Mein Team ist weiblich."
14 Jahre IGGÖ-Präsident
Anas Schakfeh wurde am 6. März 1943 im syrischen Hama geboren. Er kam 1964 nach Österreich, wo er unter anderem Arabistik studierte und als gerichtlich beeideter Arabisch-Dolmetscher tätig war. Schakfeh gehörte zu den ersten islamischen Religionslehrern in Österreich und war am Aufbau der IGGÖ beteiligt. Während seiner Präsidentschaft (1997-2011) war er bemüht, die IGGÖ als österreichische Organisation zu etablieren. Als Ehrenpräsident der Muslimischen Jugend Österreich und Namensgeber der Gemeinnützigen Privatstiftung Anas Schakfeh ist er auch nach seiner aktiven Rolle in der IGGÖ gesellschaftlich, kulturell und vor allem im interreligiösen Dialog aktiv. "Mein Ziel und mein Hauptanliegen war es, die Muslime auf der Grundlage des geltenden Rechts in die Gesellschaft zu integrieren, sodass sie sich ohne zu zögern als Österreicher definieren", sagte Schakfeh in seiner Festrede im Rathaus.
"Sie sind dafür eingetreten, Probleme durch Dialog zu lösen", erinnerte sich Heinz Fischer in seiner Laudatio an das Wirken des Geehrten. Und Nationalsratspräsident Sobotka ergänzte: "Ich darf sie beglückwünschen, dass die Muslimische Jugend Österreich als Träger Ihrer Ideen ein aktiver Teil der österreichischen Gesellschaft geworden ist."
Im Rahmen des Festakts im Rathaus wurde auch eine Festschrift für Anas Schakfeh präsentiert. Herausgeber sind Farid Hafez, Raoul Kneucker und Paul Zulehner.
Quelle: kathpress