
Van der Bellen bei Kanzelrede: Auch den Übernächsten lieben
Bundespräsident Alexander van der Bellen hat zu mehr praktizierter Nächstenliebe in der Gesellschaft aufgerufen. "Es gab einmal eine politische Diskussion, ob man auch den Übernächsten lieben muss. Ich glaube, schon", sagte das Staatsoberhaupt am Dienstagabend bei der Reformationsfeier in der Lutherischen Stadtkirche Wien. Das Verbindende müsse mehr als bisher in den Vordergrund gestellt werden, "nicht nur in den Kirchen und Glaubensgemeinschaften, nicht nur im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis, sondern über diese Grenzen hinweg und über den Tellerrand hinaus".
Van der Bellen hielt eine "Kanzelrede" zur Bergpredigt im Matthäus-Evangelium, die er zeitgemäß interpretierte. Jesus spreche in den Seligpreisungen "gerade nicht von die Leistungsträgern, sondern von den Schwachen, den Ausgegrenzten, von jenen am Rande der Gesellschaft". Die Botschaft sei damals wie heute dieselbe, nämlich: "Auch die, auf die wir wenig achten, sind gleich viel wert wie alle anderen. Nicht Erfolg, Reichtum, Gesundheit oder soziale Stellung bestimmt den Wert eines Menschen. Darum sind wir auch zur Solidarität verpflichtet", so der Bundespräsident.
Mitmenschlichkeit und Sorge um den anderen seien besonders am Anfang und Ende des Lebens vonnöten, sowie gegenüber allen Menschen, die der Hilfe bedürfen, unterstrich Van der Bellen. Als Vorbedingung dieser Haltungen nannte er die Empathie. Hilfe zu geben sei manchmal recht einfach: "Manchmal reicht ein Lächeln, eine kurze Frage, wie es geht - und schon finden sich einige Gemeinsamkeiten, anhand derer man merkt: So unterschiedlich sind wir nun doch nicht. Wir haben mehr gemeinsam als uns trennt." Durch diese Perspektive könne Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden - "ohne dass wir auf andere zeigen müssen".
Dank an Evangelische
Bereist zu Beginn seiner kurzen Ansprache dankte der Bundespräsident den evangelischen Kirchen in Österreich. "Euer zivilgesellschaftliches und soziales Engagement in Wort, Schrift und Handeln ist eine unerlässliche Quelle für den Zusammenhalt in diesem Land", so Van der Bellen. Politik und Religion seien dadurch verbunden, "dass beide an der gedeihlichen Entwicklung in diesem Land arbeiten - ich füge hinzu, arbeiten sollten", so der Bundespräsident. Beide seien "Diener am Gemeinwesen", was eine "ehrenvolle Arbeit" sei.
Kanzelreden sind in der evangelischen Kirche ein übliches Format, das zwischen Predigt und Vortrag angesiedelt ist. Dazu werden Personen des öffentlichen Lebens eingeladen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt 2017 zum Jubiläum "500 Jahre Reformation" gesprochen - damals noch als Nicht-Mitglied der evangelischen Kirche, aus der der langjährige Grünen-Chef als junger Mann ausgetreten war. Nach einer langen Phase, in der er sich als Agnostiker bezeichnet hatte, machte er diesen Schritt 2019 wieder rückgängig.
"Institution des Zuhörens"
Rahmen der Kanzelrede am Reformationstag war ein Konzertgottesdienst in der Lutherischen Stadtkirche Wien, bei dem Van der Bellen vom Lesepult aus sprach. Der Feier standen Bischof Michael Chalupka, Pfarrerin Julia Schnizlein und Pfarrer Johannes Modeß vor. Musikalisch brachte das Ensemble Lutherana der Lutherischen Stadtkirche die Kantate "Ein feste Burg ist unser Gott" von Johann Sebastian Bach zur Aufführung. Der Gottesdienst wurde auf dem YouTube-Kanal der Lutherischen Stadtkirche auch online übertragen.
Stadtpfarrerin Julia Schnizlein bezeichnete in ihren Begrüßungsworten die Evangelische Kirche als "Institution des Zuhörens". Das Zuhören wie auch das Zuhören seien, 506 Jahre nach der Reformation, wichtige Ziel der Glaubensgemeinschaft, ebenso wie das Verbinden von Menschen über Grenzen, Generationen und Meinungsbarrieren hinweg. Man wolle sich einmischen in gegenwärtige Debatten, wolle "mitleiden mit der Welt" und "klar Position beziehen gegen alles, was die Menschenwürde infrage stellt".
Der Reformationstag zählt zu den wichtigsten Feiertagen für evangelische Christinnen und Christen und markiert das Gedenken an das Anschlagen der 95 Thesen durch Martin Luther an der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517. Das Datum gilt als Ausgangspunkt der Reformation.
Quelle: Kathpress