Glettler fordert mehr internationale Solidarität mit Armenien
Mehr internationale Solidarität für Armenien hat der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler eingemahnt. Er hält sich noch bis Dienstag zu einem mehrtägigen Besuch in der Kaukasusrepublik auf. Glettler besuchte im Norden Armeniens - dem ärmsten Teil des Landes - Projekte für Kinder, Jugendliche und alte Menschen, die von der Innsbrucker Caritas mitgetragen werden. Am Sonntag wurde Glettler in Etschmiadzin bei Jerewan von Katholikos Karekin II., dem Oberhaupt der Armenisch-apostolischen Kirche empfangen. Im Mittelpunkt des Gesprächs mit dem Katholikos standen die schwierige politische Lage in Armenien sowie die dramatische Situation rund um die nicht mehr existierende armenische Enklave Berg-Karabach (Artsach) in Aserbaidschan.
Am 19. September 2023 hatte Aserbaidschan Berg-Karabach mit überlegenen militärischen Mitteln angegriffen. Schon nach einem Tag war der Krieg entschieden. Dem Angriff vorausgegangen war eine rund neun Monate dauernde Totalblockade Berg-Karabachs durch Aserbaidschan. Mehr als 100.000 Armenier mussten noch im September 2023 über Nacht ihre Heimat verlassen. Mit Ende 2023 hat Artsach auch offiziell aufgehört zu existieren.
Schon nach dem Karabach-Krieg von 2020 waren bis zu 30.000 Karabach-Armenier dauerhaft nach Armenien geflüchtet, sodass das kleine Land insgesamt mehr als 130.000 Vertriebe aufgenommen und versorgt hat, berichtete Bischof Glettler im Kathpress-Interview in Jerewan. Er traf zuvor u.a. in den Regionen Shirak und Lori mit vertriebenen Familien zusammen. Der Bischof zeigte sich zum einen zutiefst betroffen vom Schicksal der Menschen, "die ihre Heimat und viele auch Familienangehörige verloren haben". Zum anderen sei es beeindruckend zu sehen, wie die Menschen - auch mithilfe der Caritas - ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen würden.
Die Caritas hilft mit finanzieller Unterstützung und Schulungen, damit die Menschen etwa kleinen Bäckereien oder Geschäfte eröffnen können. Aber auch psychologische Hilfe wird angeboten. Die Vertriebenen seien schwer traumatisiert, so Glettler: "Die Caritas leistet effektive Soforthilfe und nachhaltige Hilfe zur Integration der Menschen in Beruf und Gesellschaft. Damit entzündet sie viele kleine Hoffnungslichter, die das Land angesichts der vielfältigen Belastungen jetzt dringend braucht."
"Barbarische Vernichtung von Kulturgütern"
Bischof Glettler rief die internationale Gemeinschaft zudem dazu auf, mehr zum Schutz des armenischen Kulturguts auf von Aserbaidschan kontrolliertem Gebiet zu unternehmen. Das Schicksal tausender ungeschützter christlicher Kulturgüter in Berg-Karabach sei ungewiss, darunter befinden sich etwa 300 Kirchen und Klöster, aber etwa auch viele Friedhöfe.
"Erst dieser Tage wurden wieder einige Kirchen komplett zerstört und ein Dorf - Karmir Shuka - dem Erdboden gleichgemacht", so Bischof Glettler. Aserbaidschan versuche, die Geschichte der christlichen Armenier in Berg-Karabach auszulöschen. "Mit dieser barbarischen Vernichtung von religiösen Kulturgütern dürfen wir uns nicht abfinden. Sie zielt auf die Vernichtung von Ethnien und religiösen Gemeinschaften." Es brauche dringend auch mehr diplomatische Bemühungen des Westens. Das armenische Volk fühle sich - "leider zurecht" - weitgehend allein und im Stich gelassen. Freilich nicht nur vom Westen, sondern auch von Russland, ergänzte der Bischof.
20 Jahre Tiroler Engagement in Armenien
Die Caritas der Diözese Innsbruck ist seit rund 20 Jahren in Armenien engagiert und genau an den neuralgischen Punkten der Gesellschaft im Einsatz, würdigte Glettler die österreichisch-armenische Zusammenarbeit. Dabei gehe es nicht nur um Hilfe für die Karabach-Flüchtlinge, sondern etwa auch um die Sorge für ältere, kranke und alleinstehende Menschen oder die Integration von Kindern mit Beeinträchtigung in das Bildungssystem. Kinder aus schwierigsten familiären Verhältnissen erhielten zudem in kleinen Wohngruppen ein temporäres Zuhause und eine liebevolle Begleitung.
Die kleine, aber höchst effiziente Caritas-Armenien werde auf allen Ebenen vor allem von Frauen getragen, hob Glettler deren professionellen und zugleich menschlich-berührenden Einsatz hervor. Zudem habe die Caritas-Arbeit auch eine starke ökumenische Komponente. Die Hilfe des katholischen Hilfswerks komme allen Menschen in Not in Armenien gleichermaßen zugute. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung gehören der Armenisch-apostolischen Kirche an.
Gedenken an Genozid an Armeniern
Tief betroffen zeigte sich Bischof Glettler auch nach seinem Besuch in der Gedenkstätte Zizernakaberd ("Schwalbenfestung") in der armenischen Hauptstadt Jerewan, die an den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 erinnert. Die Schätzungen reichen bis zu 1,5 Millionen armenische Todesopfer sowie bis zu weiteren 500.000 Opfern unter Christen anderer Konfessionen. Mit der Vertreibung aller Armenier aus Berg-Karabach sei dieses Genozid-Trauma nun wieder aufgebrochen, so Bischof Glettler. Ein Grund mehr, endlich stärker den Fokus auf Armenien und seine traumatisierte Bevölkerung zu legen. Vor allem brauche es auch internationale Garantien der territorialen Integrität Armeniens.
Demonstrationen gegen Regierung
Sonntagabend war es in der armenischen Hauptstadt Jerewan erneut zu einer Massendemonstration gegen den armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan gekommen. Mitte April hatte seine Regierung beschlossen, vier Dörfer in der Grenzregion Tavush an Aserbaidschan zurückzugeben, die Armenien in den 1990er-Jahren besetzt hatte. Gleichzeitig einigten sich beide Länder darauf, den umstrittenen Grenzverlauf in der Region verbindlich festzulegen. Paschinjan versucht nach dem Verlust von Berg-Karabach ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan zu erzielen, um weitere Gebietsverluste Armeniens zu verhindern. Kritiker werfen ihm allerdings vor, durch seine Vorgangsweise den aggressiven Nachbarn erst recht dazu einzuladen, weiter militärisch vorzurücken und sich noch mehr armenisches Land anzueignen. Zudem warnen Beobachter vor neuen militärischen Angriffen Aserbaidschans auf Armenien, um im Süden einen Landkorridor zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan zu schaffen.
Einer der führenden Köpfe der Protestbewegung gegen Paschinjan ist der armenisch-apostolische Erzbischof von Tavush, Bagrat Galstanyan. Er war auch Sonntagabend einer der Hauptredner vor mehr als zehntausend Demonstranten im Zentrum Jerewans.
Auch die armenische Kirchenleitung hat bereits deutlich Stellung bezogen. "Wir halten die Aktivitäten in den Grenzgebieten von Tavush, die im Namen der Grenzfestlegung und -markierung durchgeführt werden, für sehr gefährlich", hieß es vor einigen Tagen in einer Erklärung der Armenisch-Apostolischen Kirche. Das armenische Volk solle seine berechtigten Sorgen und Ängste auf friedlichem Wege ausdrücken.
Quelle: Kathpress