
Theologin: Frauenstimmen in der Bibelauslegung systematisch vergessen
Das in Graz koordinierte internationale Großforschungsprojekt "Die Bibel und die Frauen" ist nach 16 Jahren abgeschlossen. Die weltweit einzigartige Rezeptionsgeschichte der Bibel aus der Perspektive von Frauen habe eine zentrale Lücke geschlossen, "weil wir jahrhundertelang nur die Hälfte der Geschichte hatten", sagt die Grazer Bibelwissenschaftlerin Irmtraud Fischer, maßgebliche Initiatorin und Herausgeberin der deutschsprachigen Ausgabe, im Kathpress-Interview. Über Jahrhunderte hinweg seien Frauen, die biblische Traditionen neu interpretierten, aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt worden. "Dieses Vergessenmachen hatte und hat System", so Fischer: Frauenstimmen seien abgewertet, in männliche Exegesen integriert oder als häretisch eingestuft worden und damit verschwunden.
Die 21-bändige Reihe, die in Deutsch, Englisch, Spanisch und Italienisch erscheint, rekonstruiert erstmals systematisch die Auslegung biblischer Texte durch Frauen vom frühen Judentum bis ins 21. Jahrhundert. Über 300 Forschende aus 30 Ländern haben daran mitgearbeitet.
"Wir haben nur die Hälfte der Geschichte, die andere Hälfte fehlt schlicht", erklärt Fischer den Entstehungshintergrund des Forschungsprojekts. Die Gesamtdarstellung dokumentiere, wie die christliche Theologie durchgehend von einer androzentrischen Perspektive geprägt sei: Der Mann sei als Norm gesetzt worden, während die Frau als "zweites Geschlecht" erscheine.
Viele Exegetinnen, Mystikerinnen und Denkerinnen seien in der Tradition unsichtbar gemacht worden, so Fischer. Dazu zählt sie etwa Christine de Pizan, deren "Stadt der Frauen" erst spät wiederentdeckt worden sei, sowie die Mystikerinnen Marta Fiascaris und Domenica da Paradiso, deren Auslegungen nie Eingang in den offiziellen Traditionskanon gefunden hätten. Indem das Projekt diese Frauen neu erschließe, werde sichtbar, wie viele von ihnen gegen frauenfeindliche Interpretationen argumentiert hätten und wie konsequent ihre Stimmen marginalisiert worden seien.
Feministische Exegese weiterhin Randerscheinung
Trotz der monumentalen Dokumentationsarbeit sieht Fischer weiterhin nur geringe Resonanz in kirchlichen Kreisen wie auch in Teilen der akademischen Welt. Feministische Exegese gelte noch oft als Randdisziplin, obwohl ihre Forschungsergebnisse grundlegende Korrekturen der Kirchengeschichte ermöglichten. "Ob wir in der Kirche wirklich etwas bewirkt haben? Ich weiß es nicht", konstatiert Fischer. Auch zu Papst Franziskus' Ruf nach einer "neuen Theologie der Frau" meint die Theologin: "Es braucht keine neue Theologie. Die Bibliotheken sind schon voll mit Frauenstimmen und Publikationen von Forscherinnen. Man muss sie nur lesen."
Tradwives und biblische Frauen
Besorgt zeigt sich die Theologin über den wachsenden Einfluss konservativer und rechter Milieus auf die Bibelauslegung. Gerade in sozialen Medien würden tradierte Rollenvorstellungen, die Frauen auf eine häusliche oder dienende Rolle festlegten, an Einfluss gewinnen. Influencerinnen - etwa "Tradwives" - würden sich dabei auf Bibelzitate sowie "biblische Frauen" berufen und vereinfachte und selektive Interpretationen verbreiten. "Wir erleben, dass die Bibelauslegung der neuen Rechten wieder stärker wird, wie bereits im 19. Jahrhundert", sagt Fischer.
Häufig stützten sich solche Rollenbilder auf Texte wie Sprichwörter 31, das "Lob der tüchtigen Frau", ignorierten dabei jedoch die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung. "Da wird die Bibel gegen die Freiheit von Frauen verwendet", betont die Theologin, die zu den Gründungsmitgliedern des Grazer Fakultätsschwerpunkts "Frauen- und Geschlechterforschung" gehört.
Forschung erst am Beginn
Für Fischer, emeritierte Professorin für Alttestamentliche Bibelwissenschaften an der Universität Graz, bildet die abgeschlossene Reihe einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten. Die Reihe sei zwar abgeschlossen, aber die Erschließung weiblicher Bibelauslegung stehe erst am Anfang. "Es sind alle Bände erschienen, aber es gibt noch so viel zu erforschen", sagt Fischer. So seien etwa viele Texte erst in Archiven aufgetaucht oder neu ediert worden. Und zugleich verändere sich die gesellschaftliche Debatte rasant: "Wir brauchen diese Forschung mehr denn je."
Einen Abschluss des Frauenforschungsprojekts markierte auch die internationale Konferenz "Die Bibel und die Frauen. Exegese, Kultur und Gesellschaft", die von 4. bis 7. Dezember in Neapel stattfand. Sie wurde vom Erzbischof von Neapel, Domenico Battaglia, zum Abschluss des Jubiläumsjahres veranstaltet. Laut Fischer haben über 200 Personen an der Konferenz teilgenommen und über 1000 haben sie via YouTube mitverfolgt. (Link: www.bibleandwomen.org)
Quelle: kathpress