Handbuch zu Missbrauch in Organisationen erschienen
Buch will "Leitfaden zum Erkennen und Handeln bei sexuellem Missbrauch in konkreten Situationen" sein - Co-Autor Scharf: Erlebter Missbrauchsfall in christlicher Gemeinschaft gab Anstoß für Buchprojekt
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Wien, 20.01.12 (KAP) Erkennen, Verstehen, Handeln: Ein neuer Leitfaden zum Thema sexueller Missbrauch möchte diesen Dreischritt Betroffenen, Tätern und Opfern erläutern. Ziel des soeben im Wiener Domverlag erschienen Bandes "Sexueller Missbrauch in Organisationen" ist es dabei, möglichst praxisnah einen Handlungskatalog zum Umgang mit Missbrauchsfällen in christlichen Gemeinschaften und Organisationen zu bieten und zugleich präventive Maßnahmen zu ergreifen. Dies erläuterten zwei der insgesamt vier Autoren des Bandes - der ehemalige Wiener Pastoralamtsleiter Michael Scharf, sowie der Betriebswirt Johannes Leitner - bei einem Pressegespräch am Donnerstag in Wien.
Der prinzipielle Ratschlag lautet dabei: "Vertraut den Experten, holt externe Hilfe" - denn die Erfahrung zeige, dass Organisationen "im Anlassfall zu einem Sanierungsfall werden - und dies nicht aus eigener Kraft schaffen", so Leitner und Scharf. Dabei wissen die Autoren - und dies macht nicht zuletzt das Besondere und Authentische des Bandes aus - aus eigener Erfahrung zu schöpfen, heißt es doch in der Einleitung: "Eine große, seit Jahrzehnten bestehende, erfahrene Laiengemeinschaft, zu der auch Ärzte, Lehrer, Seelsorger, Lebens- und Sozialberater, Anwälte, Richter und Mediatoren gehören, wird mit dem Unfassbaren konfrontiert: Sexueller Missbrauch in den eigenen Reihen. Und über Nacht ist nichts mehr, wie es war."
Anlass für das Buch sei somit das eigene Scheitern gewesen, erläutern Leitner und Scharf, das schmerzhafte Eingeständnis, "Signale übersehen, Opfern und Experten nicht ausreichend geglaubt zu haben". Man habe damit "die Opfer erneut geopfert", den Tätern keine Heilung ermöglicht und sich von einem Bild einer christlichen Gemeinschaft verabschieden müssen, "in das wir so viele Jahre unseres Lebens investiert hatten".
Professionelle Hilfe suchen
Bestärkt wurden die Autoren nicht zuletzt durch den Leiter der Ombudsstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs der Erzdiözese Wien, Prof. Johannes Wancata. Das Buch unterstreiche "völlig richtig" die Notwendigkeit, "dass schon beim ersten Verdacht auf sexuellen Missbrauch professionelle Hilfe zu holen ist" - denn "alle Versuche einer Gemeinschaft, die Erfahrung sexuellen Missbrauchs innerhalb der Gemeinschaft selbst bearbeiten oder lösen zu wollen, müssen scheitern", so Wancata.
Die Aufarbeitung eines Anlassfalls in einer Gemeinschaft sowie die Implementierung von Präventionsmaßnahmen sei dabei nicht immer leicht: So sei es auf der einen Seite notwendig, "die Täter aus einer Gemeinschaft, in der die Gefahr der Wiederholung vorhanden ist, raschest auszuschließen, und zu einer entsprechenden Therapie zu zwingen, nötigenfalls auch durch eine Strafanzeige", wie Wancata schreibt - andererseits stoße man gerade innerhalb von Organisationen oft auf ein hohes Maß an Beharrungspotenzial und "taube Ohren" für die Berichte von Opfern, so die Autoren.
In zehn Kapiteln klärt das Buch dabei zunächst grundlegende Begriffe, beleuchtet Täter, Opfer und die Strukturen von Organisationen, die Missbrauch ermöglichen. Ziel ist dabei stets die Praxis und die konkrete Hilfestellung bei auftretenden Verdachtsmomenten. In seinem Ausblick bietet das "bewusst psycho-sozial ausgerichtete Buch" eine Reflexion auf die Themen Trauer, Klage, Schuld und Vergebung sowie Schritte erfolgreicher Prävention. Dazu zählen die Autoren u.a. Schulungsmaßnahmen für Mitarbeiter, eigene Anlauf- und Beratungsstellen, die Erstellung eines verpflichtenden Verhaltenskodex' sowie die Erstellung klarer Krisenablaufpläne. Abgerundet wird der Band mit einer Sammlung von möglichen Kontakt- und Anlaufstellen.
"Präventionsarbeit in Kirche stärken"
Die kirchliche Umsetzung beschlossener Präventionsmaßnahmen gegen sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen muss nach Meinung der Autoren des neuen Handbuches "Sexueller Missbrauch in Organisationen" verbessert werden. Es gebe zwar gute Richtlinien und Handlungskodices, bei der praktischen Umsetzung gebe es aber noch Nachholbedarf, so Co-Autor Leitner. Zwar sei nun in der Erzdiözese Wien eine Präventionsstelle eingerichtet worden, neben den bereits bestehenden diözesanen Ombudsstellen und der Klasnic-Kommission würden diese Koordinierungsstellen allerdings zu langsam eingerichtet; auch sonst übliche Standards der Qualitätssicherung würden bislang noch zu selten umgesetzt, so Leitner im Rahmen der Buchpräsentation am Donnerstag in Wien.
"Jede Organisation wird durch Missbrauch zu einem Sanierungsfall", erläuterte Leitner. Das treffe auch auf die Kirche und christliche Gemeinschaften zu. Das bedeute, dass Missbrauch nie nur Täter und Opfer betreffe, sondern die Organisation als Ganze herausfordere. In christlichen Gemeinschaften bestehe allerdings eine besondere Gefahr. So seien es gerade die besondere Nähe der Menschen zueinander, ihr enges Vertrauensverhältnis, dass "solche Organisationen für Täter reizvoll machen".
Zugleich bestehe die besondere Problematik christlicher Gruppen darin, dass gerade sie "nicht selten dazu neigen, Missbrauch als ein Problem von 'da draußen' wahrzunehmen", heißt es in dem Leitfaden. Denn gerade vor dem Hintergrund des hohen moralischen Anspruchs christlicher Gruppen erscheine es "unvorstellbar, dass ein Christ, jemand, der sich um Nachfolge bemüht, jemand (...) der ein intensives geistliches Leben führt, ein Missbrauchstäter sein könnte." Die aufgedeckten Missbrauchsfälle gerade in christlichen Organisationen zeigten aber: "Er kann."
Entsprechend empfehlen die Autoren gerade auch für betroffene christliche Gemeinschaften ein konsequentes Handeln: Zwar bestehe auch den Tätern gegenüber eine "Fürsorgeverpflichtung", diese bestehe allerdings nicht im Vertuschen oder im Täterschutz, sondern gerade darin, "ihn aus einer Gemeinschaft, in der die Gefahr der Wiederholung vorhanden ist, auszuschließen". Werden keine klaren Konsequenzen gezogen, so die Autoren, "hat dies unausweichlich zur Folge, dass Missbrauch bagatellisiert wird und die Gruppe einen täterorientierten Weg einschlägt".
Das Buch "Sexueller Missbrauch in Organisationen. Erkennen - Verstehen - Handeln" von Uwe Eglau, Elisabeth Leitner, Johannes Leitner und Michael Scharf ist im Wiener Domverlag erschienen und kostet 13,90 Euro.