
Bonelli: "Raus aus der Opferfalle!"
Es ist ganz normal im Leben, schuldig zu werden. Notorische "Unschuldsengel", die dies leugnen, tun sich unnötig schwer, legt der Psychiater Raphael M. Bonelli in seinem neuen, bei Pattloch erschienenen Buch "Selbst Schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen" dar. Der Titel ist dabei Programm: "Wer sich aus der Opferrolle befreit, eigene Schuld erkennt und sein Tun selbst verantwortet, lebt befreiter, glücklicher und vergrößert seinen Handlungsspielraum", so der Autor im Interview mit "Kathpress", das auch das Sakrament der Beichte berührte: Sie sei nicht Ersatz, sondern "gute Ergänzung der Psychotherapie", so Bonelli.
Bonelli hat sich bisher durch umfangreiche Studien an der Schnittstelle von Religion, Medizin und Psychologie einen Namen gemacht. Er lehrt und forscht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität, leitet das "Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie" (RPP) und ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Wien. In seinem ersten Buch verknüpft er auf 336 Seiten Schicksale literarischer Figuren und Fallbeispiele aus der Therapeutenpraxis mit fachlichen Erklärungen, leicht verständlich und mit unverkennbar humorvollem Unterton.
Alle sind Opfer
So wie früher Sex verdrängt wurde, sei heute Schuld das große Tabu, so die These des Neurowissenschaftlers: "Heute ist fast jeder ein Opfer - von Natur, Gesellschaft, Eltern, Ehepartner, Freunden, Chef oder Kollegen. Da die Einsicht in eigene Fehler schmerzt, zeigt man mit dem Finger immer auf die anderen". Die einst von Sigmund Freud beschriebene Verdrängung komme auch hier voll zur Geltung: Verleugnete Schuld entwickle laut Bonelli ein Eigenleben, mache aggressiv, verbittert und oft sogar krank und manövriere Betroffene somit in eine "psychodynamische Sackgasse".
Therapeuten seien stets in Gefahr, dem Patienten entweder vorschnell recht zu geben, Schuld als Schuldgefühl umzudeuten oder dieses wiederum pauschal als Fehlfunktion der Psyche zu sehen, so Bonelli. Aktuell breche in der Therapie dieses Schema jedoch auf, besonders infolge der Erfahrung mit Missbrauchstätern, wo "jetzt eine Lösung nötig" sei: "Hier ist klar, dass die Täter nicht nur Opfer sind. Bleibt eigene Schuld ausgeklammert, kommen wir nicht weiter." Ausgangspunkt dieser Erkenntnis sei die Paartherapie, in der man gegenseitiges Fremdbeschuldigen ebenfalls als ungünstig erkannt habe.
"Couch-Exkulpieren ist Übergriff"
Schuld feststellen könne der Therapeut nicht, strich Bonelli hervor, denn "die Couch ist moralfreie Zone". Entscheidend sei aber, den Klienten nach dessen Anteil am geschilderten Problem zu hinterfragen. "Schuld muss übrig bleiben dürfen. Das Erkennen eigenen Versagens ist kein Scheitern der Therapie, sondern ein möglicher Anstoß heilsamer Prozesse - etwa, dass man sich entschuldigt, fremden Fehlern leichter verzeiht und mit ständigen Vorwürfen aufhört. Das wirkt sich auch auf das Umfeld günstig aus." Überhaupt sei ein sich eigener Makel bewusster Mensch auch viel umgänglicher als ein ständig brillanter Narzisst, so der Buchautor.
Deutlich davon zu unterscheiden sei die Funktion eines Priesters in der Beichte, erklärt Bonelli. Auch hier sei es "bereits psychologisch ungeheuer heilsam", wenn jemand von sich sage "ich habe gesündigt". Ein Priester sei nicht wertneutral, sondern dürfe Schuld beurteilen, "dazu kommt noch die sakramentale Ebene, dass hier ein Gegenüber richterlich zuhört und dann väterlich-liebevoll vergibt". Therapeuten könnten hier wertvolle Vorarbeit leisten, indem sie Unbewusstes aufgreifen und erarbeiten. Würden sie jedoch Schuldempfinden ausreden wollen, sei dies ein "billiges Exkulpieren" - "ein unerlaubter Übergriff auf die religiöse Ebene, bei dem sich der Klient zudem oft nicht ernst genommen fühlt", so der Buchautor.
O-Töne des Interviews mit Raphael M. Bonelli können in Kürze unter www.kathpress.at/audio abgerufen werden.
(Infos: www.selber-schuld.com)