
"Herr, öffne mir die Lippen!"
Die Mitverantwortung der christlichen Kirchen an den Novemberpogromen von 1938 und in weiterer Folge an der gesamten Schoah stand am Samstag im Mittelpunkt von Gedenkreden des evangelisch-lutherischen Bischofs Michael Bünker und der Präsidentin der Vereinigung der Frauenorden Österreichs, Sr. Beatrix Mayrhofer. Beide äußerten sich bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Wiener Ruprechtskirche, der zugleich den Höhepunkt der "Mechaye Hametim - Der die Toten auferweckt"-Gedenkwoche bildete.
Im Folgenden dokumentiert katholisch.at die Ansprachen von Sr. Mayrhofer und Bischof Bünker im Wortlaut:
Herr, öffne mir die Lippen!
"Morgen früh beten wir ihn wieder, den 17. Vers dieses Psalms, jeden Morgen beten wir ihn, denn es sind die ersten Worte, mit denen rund um den Erdball die Priester, die Mönche, die Ordensfrauen das Lob unseres Gottes beginnen. Und mit den Schulschwestern in Japan, bei denen schon bald der Morgen des 10. November anbricht, beten wir wieder: Herr, öffne mir die Lippen! Herr, öffne mir die Lippen! – so haben meine Mitschwestern am Morgen des 10. November 1938 auch gebetet.
Haben sie wirklich gebetet? Hat es ihnen nicht die Sprache verschlagen? Haben sie nichts gehört in dieser Nacht, als nur einen Häuserblock weiter in Wien Fünfhaus der Turnertempel gebrannt hat, haben sie das krachende Einstürzen dieses Zentrums jüdischen Lebens nicht gehört, das Schreien der Menschen? Die Feuerwehr haben sie nicht gehört, denn die kam nicht, noch lange nicht. Und als sie kam, hat sie die umliegenden Häuser geschützt vor den Flammen, die gerade die Synagoge vernichteten.
Mit ihren Schulkindern konnten die Schwestern über die vergangene Nacht nicht sprechen, denn auch die Schulkinder kamen nicht, durften nicht mehr kommen. Schon Anfang August 1938 wurde den privaten Schulen das Öffentlichkeitsrecht entzogen und alle Lehr- und Erziehungstätigkeit verboten.
So stehe ich nun hier, am 9. November 2013, und bete mich hinein in die alten, heiligen Worte. Herr, öffne mir die Lippen! Öffne du mir die Lippen, denn wenn ich den Mund aufmache, ohne geleitet zu sein von deinem Geist, dann kann es wohl sein, dass nur sinnloses Schwätzen oder auch böse Worte über meine Lippen kommen.
Die Chronik des Ordens berichtet von allen Schließungen, von der Vertreibung der Schwestern. Über das Verbrennen der Synagoge schweigt sie. Hat die Angst, die politische Vorsicht, der Schreiberin die Feder gehalten? Oder sogar der Antisemitismus, von dem auch die Ordensfrauen angesteckt waren? Ich weiß es nicht. Ich lese nur, dass die Chronistin das Jahr 1938 beschließt mit dem Hinweis auf "schwere, tiefgreifende Ereignisse" und auf eine "dunkle Zukunft".
So stehe ich nun hier, am 9. November 2013, und bete mich hinein in die alten, heiligen Worte. Herr, öffne mir die Lippen! Öffne du mir die Lippen, denn wenn ich den Mund aufmache, ohne geleitet zu sein von deinem Geist, dann kann es wohl sein, dass nur sinnloses Schwätzen oder auch böse Worte über meine Lippen kommen. Wenn wir den Mund aufmachen, ohne geleitet zu sein vom göttlichen Geist, dann kann es auch ein auftrumpfendes, abwertendes, verletzendes und verurteilendes Reden sein, launisch und lügnerisch.
Das Brüllen am Heldenplatz, damals, das Johlen der Brandsätze werfenden Fanatiker in dieser Nacht, in dieser Stadt, kam nicht von den Lippen derer, die den Psalm 51 gebetet haben – aber waren nicht gerade die Getauften die Tätern? Wer hat denn die Stimme erhoben gegen die grässlichen Maul-Aufreißer? Und wer hat den Mund eben nicht aufgemacht, wer hat geschwiegen?
Herr, öffne mir die Lippen, öffne sie mir, damit ich rede, die Stimme erhebe, wo ich reden muss und mich nicht vergrabe in Stummheit und in feigem Verschweigen. Heute. Herr, öffne mir die Lippen! Aber was bete ich da? Zu wem bete ich so, noch bevor ich zu beten beginne? Du, Herr, bist da, bist der, zu dem ich mich wende, du, der sich schon herwendet zu mir, der mich schon kennt im Schoß meiner Mutter. Und der mir die Lippen öffnet, wenn tiefe Schuld mir die Sprache verschlägt. Du, der Du wirkmächtiges Wort bist, der An-Redenden, der Gott des Zu-Spruchs, der du Schöpfung durch Sprache erschaffst, du öffnest mir die Lippen und ich flehe zu dir um ein reines Herz, um einen neuen, beständigen Geist. Und da ich anfange, mit dir zu reden, bitte ich dich, dränge ich dich mit der ungestümen Hoffnung des Beters.
Herr, öffne mir die Lippen, öffne sie mir, damit ich rede, die Stimme erhebe, wo ich reden muss und mich nicht vergrabe in Stummheit und in feigem Verschweigen.
Achtzehn Imperative formuliert unser Psalm: Sei mir gnädig, wasche mich, entsündige mich, verwirf mich nicht, rette mich! Öffne mir die Lippen! Tu Gutes an Zion! Bau die Mauern Jerusalems wieder auf! Nach aller persönlichen Rede, aller Bitte, dass der Herr an mir handle, wendet und weitet sich das Gebet. "Bau die Mauern Jerusalems wieder auf!"
Möge doch aus den uralten Trümmerstätten eine neue Stadt erstehen, ein Haus des Friedens, eine Stadt der Gerechtigkeit, in der das Opfer des Lobes dargebracht und zum Mahl der Versöhnung geladen wird. Im tiefem Bewusstsein um die Schuld unserer Väter und Mütter, um die Verbrechen in den Straßen unserer Stadt heute, in dieser Nacht und in vielen folgenden Tagen und Nächten und auch im Einbekennen unseres eigenen Versagens angesichts neuer Schuld und himmelschreiender Sünde in unserer Welt klammern wir uns an den Beter des Psalms, beten Zeile um Zeile und bitten mit ihm: Herr, öffne mir die Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde!
Wendegebet
Morgen früh werden wir Schwestern wieder mit diesem Vers die Laudes beginnen. Weder werden wir beten, wie tausende Jahre vor uns schon abertausende Menschen gebetet haben. Möge es zu einem Wende-Gebet werden, zu einem Beten, das uns hinwendet zum Lobpreisen und Wahr-Nehmen, zum Auf-Stehen und Ein-Stehen, zum großen Jubel über Gottes Gerechtigkeit. Herr, öffne mir die Lippen und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden."
Sr. Beatrix Mayrhofer
Quelle: ordensgemeinschaften.at
Lasst uns nicht aufhören, hinzusehen!
Liebe Schwestern und Brüder, im Licht der Worte der Heiligen Schrift sehen wir. Wir sehen zuerst die entfesselte Gewalt, die am 9. November vor 75 Jahren geplant und gesteuert losgebrochen ist, wir sehen das unsägliche Leid, das damit über Jüdinnen und Juden angetan wurde, wir sehen, mit welcher teuflischen Konsequenz die Ereignisse der Pogromnacht auf die Vernichtung, auf die Shoa hinauslaufen. Mit den Novemberpogromen des Jahres 1938 geschah nicht bloß ein weiterer, sondern ein erschreckend großer Schritt hin zur systematischen Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Was der 9. November für sie damals, vor 75 Jahren, bedeutete, haben wir gehört. Lasst uns nicht aufhören, hinzusehen!
Wir sehen, dass von den Tätern, die sich ihrer Verbrechen noch stolz gerühmt haben, niemand je zur Verantwortung gezogen wurde. Wir sehen, dass heute in Salzburg die Stolpersteine – zum wiederholten Male - beschmiert werden, wir sehen, dass es Neonazismus in unserem Land gibt, unter jungen Menschen, wir sehen, dass Politiker in hohen Funktionen der Republik an der Relativierung des Verbotsgesetzes schrammen, weil es sich "ein bisschen mit der Meinungsfreiheit spießt". Hans Magnus Enzensberger schreibt: "Es soll welche geben, die es nicht mehr hören können. Der eine oder der andre bestreitet es einfach. Die meisten glauben, es sei vorbei. Nur selten sagt eine schwache Stimme einem ins Ohr, daß es kein Ende nimmt." Lasst uns nicht aufhören, wachsam hinzusehen!
Es soll welche geben, die es nicht mehr hören können. Der eine oder der andre bestreitet es einfach. Die meisten glauben, es sei vorbei. Nur selten sagt eine schwache Stimme einem ins Ohr, daß es kein Ende nimmt.
Wir sehen auch – mit Scham, wie es die Evangelischen Kirchen vor 25 Jahren formulierten – das Versagen der Kirchen, ihre Blindheit und ihre Schuld. Nicht nur einzelne Christinnen und Christen, sondern auch unsere Kirchen sind an der Shoa mitschuldig geworden. Schon lange vor der physischen Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden hatten sie – wie es Martin Stöhr einmal formulierte – theologisch Israel und das Judentum schon für tot erklärt. In den Jahren 1940 bis 1943 sitzt Dietrich Bonhoeffer an seiner "Ethik". Sie sollte sein Lebenswerk werden und ist doch nur Fragment geblieben.
Dort heißt es: "Die Kirche bekennt ... ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährlichen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet. Sie hat dadurch den Ausgestoßenen und Verachteten die schuldige Barmherzigkeit oftmals verweigert. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zur rechten Zeit nicht gefunden ... Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder ... Die Kirche bekennt sich schuldig aller zehn Gebote, sie bekennt darin ihren Abfall von Christus ... Wer das Schuldbekenntnis der Kirche erstickt oder verdirbt, der wird in hoffnungsloser Weise schuldig an Christus." Lasst uns nicht aufhören, hinzusehen! Ich erkenne meine Missetat und meine Sünde ist immer vor mir.
Wir sehen, dass Dietrich Bonhoeffer am 9. November1938 in seiner Bibel in Psalm 74 zwei Sätze unterstrichen hat. Einmal den Vers 7, wo es heißt: "Sie verbrennen dein Heiligtum". Auch in Köslin im hintersten Pommern, wo sich Bonhoeffer damals aufhielt, brannte die Synagoge. Später, in einem Rundbrief an die jungen angehenden Pfarrer, für die er damals im Untergrund zuständig war, zitiert er aus dem Propheten Sacharja (Sach. 2,12): "Wer euch antastet, der tastet seinen Augapfel an", gemeint ist: Wer Jüdinnen und Juden antastet, tastet den Augapfel Gottes an.
Die Kirche – katholisch wie evangelisch - hätte als Ganze das prophetische Amt wahrzunehmen gehabt. Damals. Und heute? Lasst uns nicht aufhören, hinzusehen!
Wahrscheinlich hat er auch in dieser Zeit jenen Satz gesagt, der sich bis heute eingeprägt hat: "Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen". Der zweite Vers, den er im 74. Psalm anstreicht und mit einem Rufzeichen am Rand versieht, ist Vers 9: "Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr, und keiner ist bei uns, der weiß wie lange." Die Kirche – katholisch wie evangelisch - hätte als Ganze das prophetische Amt wahrzunehmen gehabt. Damals. Und heute? Lasst uns nicht aufhören, hinzusehen!
Wir sehen im 51. Psalm, wie ein Mensch, ein König noch dazu, mit seinem Schuldigwerden konfrontiert wird und um Umkehr ringt und nach Vergebung fragt. David hatte sich Bathseba geholt und dafür deren Mann Uria auf heimtückische Weise in den Tod geschickt. Der Prophet Nathan konfrontiert den König mit dem Unrecht dieser Tat und der Schuld, die er damit auf sich geladen hat (2. Sam 11-12). David erkennt seine Verfehlung und bittet Gott um Vergebung. Wie ein Drehbuch für eine öffentliche Buße beschreibt der Psalm den Weg. "Ich erkenne meine Missetat und meine Sünde ist immer vor mir." Für die Schuld des Betenden werden verschiedene Begriffe gebraucht, wie so oft ist das Hebräische reicher als die spätere Übersetzung. Da ist die Rede von "Päsa", der Empörung, dem Frevel, da ist die Rede von "Avon", der Verkehrtheit und von "Hattat", der Verfehlung. Martin Buber übersetzt mit "Abtrünnigkeit, Fehl und Sünde", die Bibel in gerechter Sprache mit "Verbrechen, Schuld und Sünde".
Auch wenn damit ursprünglich unterschiedliche Handlungen gemeint waren, werden sie vor Gott synonym gebraucht und insgesamt als "Sünde" bezeichnet. Das ist auch folgerichtig, denn die verschiedenen Handlungen meinen gemeinsam die Zerstörung und Bedrohung der Gemeinschaft. Wer die Gemeinschaft unter den Menschen zerstört, mit rassistischer Abwertung, mit gesellschaftlicher Ausgrenzung, mit Beraubung, Verfolgung bis zur Vernichtung, versündigt sich vor Gott. Und wer sich so gegen Gott versündigt lädt nicht nur Schuld auf sich durch das Leid, das er anderen antut, er und sie verfehlt sich selbst und lebt in Verkehrung.
Wir sehen die Mut machenden Ausnahmen. Und sehen uns auf dem Weg der Umkehr. Auf diesem Weg reinigt die Kirche ihre Liturgie und ihre Lehre von den judenfeindlichen Erblasten und lebt ihren Glauben in stetiger Erinnerung an Gottes ungebrochene Treue zu seinem erwählten Volk.
Wir sehen schließlich uns selbst. Zumeist wohl Nachfahren der Wegschauenden, womöglich auch der Täter, selten derer, die mutige Zeichen gesetzt haben, wie der evangelische Pfarrer von Villach, Johannes Heinzelmann, der am 10. November 1938 die jüdischen Familien besucht hat und in seiner Predigt am folgenden Sonntag meinte, er schäme sich zum ersten Mal, ein Deutscher zu sein.
Wir sehen die Mut machenden Ausnahmen. Und sehen uns auf dem Weg der Umkehr. Auf diesem Weg aus Blindheit und Schuld reinigt die Kirche ihre Liturgie und ihre Lehre von den judenfeindlichen Erblasten und lebt ihren Glauben in stetiger Erinnerung an Gottes ungebrochene Treue zu seinem erwählten Volk. Die Kirche auf dem Weg der Umkehr ist dankbar dafür, dass unter uns und mit uns die jüdische Gemeinde lebt. Sie setzt sich für lebendige Beziehungen zu ihr, steht ihr bei und tritt für sie ein, wenn sie neuerlichen Anfeindungen und Antisemitismus ausgesetzt ist, wachsam gegenüber jedem Rassismus und Antisemitismus. Die Kirche auf dem Weg der Umkehr freut sich über das Gotteslob der Jüdinnen und Juden, das sie immer an ihre eigene Wurzel bindet. Lasst uns nicht aufhören, hinzusehen!
Bischof Michael Bünker
Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd)