1989: "Kirchen ringen um Freiheitskultur mit"
Die vor 25 Jahren vom Joch des Kommunismus befreiten Kirchen in Ost- und Mitteleuropa ringen heute mit um eine gelungene Freiheitskultur in ihren Gesellschaften. Diese Beobachtung äußerte der Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul M. Zulehner in einem "Kathpress"-Interview über die politische Wende vor 25 Jahren, deren Folgen längst nicht abgeschlossen seien.
Es gebe nach wie vor den "homo sovieticus", der mit seiner Meinung lieber hinter dem Berg halte, sowie Regierungen wie in Russland oder Ungarn, die nicht mehr kommunistisch, aber auch nicht westlich-demokratisch agierten. In diesen Gesellschaften, die "selbst noch auf der Suche nach der Freiheit" seien, falle auch den Kirchen eine Neupositionierung schwer, sagte Zulehner. Es werde noch Jahre dauern, bis sich die postkommunistischen Länder und die dortigen Kirchen konsolidiert hätten.
Der seit Jahrzehnten mit Europäischen Wertestudien befasste Theologe und Religionsforscher sieht die Kirchen in Ostmitteleuropa vor der gleichen Aufgabe, "die wir im Westen recht und schlecht bzw. viel zu spät angepackt haben": Aus einem "Traditionschristentum" müsse sich ein "Überzeugungschristentum" entwickeln.
Derzeit würden traditionelle Frömmigkeitsformen wie Wallfahrtsbewegungen mehr gepflegt als ein Weg beschritten, bei dem Glaubensentscheidungen auf individueller Ebene begründet getroffen werden. Auch in den Großkirchen Polens oder Kroatiens gibt es laut Zulehner "nach wie vor sehr viele national denkende Traditionschristen". Der Übergang zu einer Kirche unter den Bedingungen der Freiheit sei noch nicht geschafft und werde wohl noch Jahre dauern. Das werde etwa im schwierigen Zugehen auf junge Menschen sichtbar oder bei der immer geringeren Zahl an Priesteramtskandidaten.
Zwischen Nostalgie und Modernität
Die Kirchenleitungen hätten nach der Wende unterschiedlich auf die neue Freiheit reagiert: Manche begaben sich in einen "nostalgischen Modus" und wollten an den Verhältnissen anknüpfen, die für die Kirchen vor der kommunistischen Machtergreifung nach dem Krieg herrschten - also zurück zu einer konservativen, "feudalen" Kirche, so Zulehner. Andere wiederum hätten sich am freiheitlich-westlichen Kirchenmodell orientiert und sich gleichzeitig Widerstand gegen den "Verfall" durch Hedonismus und Relativismus eingehandelt.
Von Theologen sei als drittes Reaktionsmodell vorgeschlagen worden, die KP-Ära als eine Art "babylonische Gefangenschaft" zu verstehen, als "Lektion Gottes" für die gesamte Weltkirche: "Also heraus aus der priesterzentrierten 'Sakristeikirche', hinein in gesellschaftliche Bereiche wie Bildung oder Sozialwesen."
Gerade in Polen, dessen friedvolle Widerstandsbewegung Solidarnosc durch die Besuche des polnischen Papstes Johannes Paul II. eine Schlüsselrolle beim Fall des Eisernen Vorhangs gespielt habe, wachse die innerkirchliche Polarisierung zwischen Konservativen und Weltoffenen, sagte Zulehner. Er rechnet dort nicht zuletzt wegen der "hohen Intelligenz" des polnischen Katholizismus mit einer ähnlichen Entwicklung wie hierzulande nach der Öffnung durch das Zweite Vatikanische Konzil, das die Kirche der Modernität öffnete.
Das zweite Land, in dem Religion bei der Überwindung des KP-Regimes eine besondere Rolle spielte, war Ostdeutschland. Hier war freilich der Protestantismus die treibende Kraft, erinnerte Zulehner an Gebetsversammlungen in Kirchen, die dem Fall der Berliner Mauer vorausgingen.
Konfessionell große Unterschiede
Gerade das Beispiel DDR verdeutliche, dass das Schicksal der Kirchen im und nach dem Kommunismus "konfessionell sehr verschieden" verlief. Es habe dort zu Beginn des KP-Regimes viel mehr protestantische Christen gegeben als bei dessen Ende. Der "Kollaps" der Kirche sei während der Diktatur massiv gewesen, "sodass die Wende nur das zutage brachte, was in der Zwischenzeit verfallen war".
Jetzt gehöre Ostdeutschland mit Tschechien und dem ebenfalls protestantisch geprägten Estland zu den "herausragend atheistische Kulturen" in Europa. Dies zeigt laut dem Theologen eine "auch ökumenisch unangenehme Wahrheit": Die Beschädigung des religiösen Lebens sei in protestantischen Ländern wesentlich ausgeprägter als in katholischen oder auch orthodoxen.
Warum dies so ist, sei nicht leicht zu beantworten, meinte Zulehner. Plausibel erscheine die Vermutung, der Katholizismus sei von seinem Kirchenverständnis her wesentlich vernetzter als der "hoch individualisierte" Protestantismus und deswegen auch resistenter gegen religiöse Ausdünnung.
Mit Papst Franziskus an die Ränder?
Der Wiener Religionssoziologe erwartet, dass neue Zugänge zu Gott weniger über das Thema Freiheit, sondern eher über Solidarität erfolgen werden. Die Bedrohungen im Solidarbereich seien heute wesentlich größer als im Freiheitsbereich: "Die Freiheit erwartet man sich von der Demokratie", die Kirche werde nicht mehr so sehr als deren Anwältin, sondern "als Anwältin der Gerechtigkeit" gebraucht, die heute durch ungleiche Lebenschancen gefährdet sei.
"Wo gehen Kirchen mit Papst Franziskus an die Ränder der Gesellschaft?" ist nach den Worten Zulehners somit eine spannende Zukunftsfrage auch im Blick auf die Chancen der Kirche in Ost- wie auch in Westeuropa. Der Papst stehe für eine "massive Provokation befreiungstheologischer Art". Die Kirche stehe vor der Frage nach ihrem Platz in Gesellschaften, die auch strukturell Armut in Kauf nähmen. Wenn man sich fragte, was eine Theologie der Befreiung etwa für Ungarn oder Rumänien bedeuten würde, kommt man - so Zulehner - wohl auf "Grassroot"-Initiativen, die sich der Outcasts oder Roma annehmen.
Quelle: Kathpress