"Gott ist im Fleische"
Vor 100 Jahren, im Dezember 1944, schrieb der Jesuit und NS-Widerstandskämpfer Alfred Delp (1907-1945) seine Weihnachts-Meditationen. Darin notierte er: „Es ist die unbegreifliche Tatsache der Eingeschichtlichung Gottes. Dass er in unsere Existenz eintritt: nicht nur wie, sondern als einer von uns. Er ist auf unseren Straßen anzutreffen. In den dunkelsten Kellern und den einsamsten Kerkern des Lebens werden wir ihn treffen.“
Delp gelang es damit, in knappen Sätzen den Kern der Weihnachtsbotschaft in Worte zu fassen. Doch anders als die klassische Erzählung vom Kind in der Krippe hat sich diese Version des Kommens Gottes „in unser armes Fleisch“ nie einer besonderen Beliebtheit erfreut. Gewiss, die Botschaft von Weihnachten stellt so oder so eine Zumutung dar: So ist es zum einen schwierig, die Menschwerdung Gottes mit der philosophischen Gottesdefinition von der „alles bestimmenden Wirklichkeit, die wir Gott nennen“ zusammenzudenken; zum anderen droht eine solche, eher abstrakte Beschreibung, der Geschichte von der Menschwerdung den eigentlichen Stachel zu ziehen: nämlich das Kommen Gottes zu den Armen, zu denen, die am Rand stehen.
Reich Gottes statt Fleischwerdung?
Wäre es da nicht einfacher, diese ganzen Stolpersteine der Rede von der Fleischwerdung zu vermeiden und sich auf die Botschaft Jesu vom Reich Gottes zu konzentrieren? Nein, denn die Botschaft vom Reich Gottes ist nicht zu trennen von der Menschwerdung Gottes. Das verheißene Gottesreich, das „Leben in Fülle“, ist ja christlicher Überzeugung gemäß schon in Leben, Tod und Auferweckung Jesu angebrochen, ist schon in der Person Jesu selbst „mitten unter uns“ vorweg genommen, wenn auch noch nicht vollendet.
Anders gesagt: Das Reich Gottes in seiner Fülle am Ende der Zeit ist nicht zu denken ohne den Hinweis auf den Neubeginn der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung – ein Neubeginn, der gerade darin besteht, dass sich Gott selbst zum Teil dieser Geschichte macht, dass er in sie eingeht, dass er Mensch unter Menschen wird. Weihnachten, die „Eingeschichtlichung Gottes“, so Delp.
So herzwärmend die Geschichte vom Stall ist, so sehr muss man sich immer wieder das weltenstürzende Moment der Fleischwerdung bewusst machen: Ein Gott, der Mensch wird – dieser Gedanke wirft sowohl ein neues Licht auf das Gottesverständnis als auch auf das menschliche Selbstverständnis. Zum einen verleiht er der gesamten menschlichen Existenz eine besondere Bedeutung und Würde, die selbst die im Schöpfungsakt verliehene Würde der Gottebenbildlichkeit steigert. Zum anderen wird Gott durch die Inkarnation zu einem Gott der Geschichte, der Welt – nicht der „Hinterwelt“. Der Gott des Fleisches ist damit kein ferner, entzogener, erhabener Gott mehr, sondern er wird zu jenem Gott, der sich schon im Anfang an seine Schöpfung gebunden hat, der ihr nahe sein und sie zur Vollendung führen will.
Vertrauen in den Menschen
Nichts anderes bedeutet das Wort „Eingeschichtlichung“ – dass sich Gott als vollkommener Schöpfer in Person Jesu von Nazareth zu einem bedingten, endlichen Dasein bekennt. Der tiefere Grund für diesen Schritt liegt im Heilswillen Gottes: Er will Heilung und Befreiung schenken, aus unheilen Zuständen und Strukturen retten. Um seiner Geschöpfe willen macht sich Gott also zu einem endlichen Dasein.
So wird in Jesus von Nazareth, in der Fleischwerdung Gottes, die wir unter dem Namen Weihnachten feiern, etwas Doppeltes sichtbar: Zum einen das unbedingte Dasein Gottes für den Anderen; und zum anderen das Zutrauen, das er in uns Menschen setzt. Denn schließlich bleibt Jesus immer Mensch in seinem Tun und in seinem ebenso unbedingten Dasein für Andere bis zum Äußersten. Und genau darin ist das „Leben in Fülle“, das Reich Gottes schon angebrochen, ist das erschienen, was uns zugesagt ist, wie wohl seine Vollendung noch aussteht.
Ringend nach Erklärung
Dennoch aber stellt sich theologisch die Frage, wie denn diese Menschwerdung Gottes letztlich vernünftig zu erklären ist. Denn seit den Anfängen des Christentums gilt dieser Gedanke neben dem Bekenntnis zum gekreuzigten Messias als anstößig, worauf auch der französische Philosoph Michel Henry hingewiesen hat: „Dass der Ewige, der entfernte und unsichtbare Gott Israels, der stets sein Antlitz in den Wolken oder hinter einem Gebüsch verbirgt, dessen Stimme man höchstens vernimmt (...), in der Welt einen irdischen Körper oder Leib auf sich nehmen soll, um darin die Qual eines schändlichen Todes zu erleiden, wie er den Verbrechern und Sklaven vorbehalten war – dies ist letztendlich für einen gelehrten Rabbi ebenso absurd wie für einen Weisen der heidnischen Antike.“
Doch in Alfred Delps Aufzeichnungen findet sich auch ein Hinweis darauf, inwiefern der Gedanke der Menschwerdung Gottes vernünftig gerechtfertigt werden kann. Denn Delp schrieb, dass Gott nicht wie, sondern als einer von uns in die Existenz eintrete. In diesem als ist bereits die Möglichkeit der Menschwerdung Gottes markiert: Gott setzt sich selbst als ein Anderes seiner selbst. Er tritt aus sich heraus und wird so ein Anderer. Mit diesem Anderen hat es nun aber eine besondere Bewandtnis: Er ist, obwohl ein Anderer, doch auch Gott selbst, denn dieser hat sich ja als dieser Andere gesetzt.
Das heißt: Gott hat in Jesus von Nazareth nicht einfach ein Gegenüber geschaffen, das gänzlich von ihm unterschieden und getrennt wäre, sondern er hat sich selbst als dieser Andere gesetzt, eins mit ihm. Er bleibt somit einer und trägt doch eine Differenz in sich. Nur so kann sich Gott zu einem einzelnen Menschen machen und doch Gott bleiben – und umgekehrt dieser eine Mensch auch Mensch bleiben. Jesus also als kein bloßes Abbild des göttlichen Urbildes, sondern als Bild göttlicher Gegenwart, in dem Gott selbst zur Erscheinung gekommen ist.
„Gott ist im Fleische“ – ein ungeheuerlich anmutender Satz, sicher nicht so leicht zugänglich wie das Symbol vom Kind in der Krippe oder die Verheißung des Friedens auf Erden. Doch die Botschaft, dass Gott einer von uns geworden ist, macht es vielleicht denjenigen, die sich auf sie mit Herz und Verstand einlassen können, möglich, ihr Leben nicht einfach nur dahin zu leben oder verzweifelt „abzuleben“, sondern ihr eigenes Leben mit Leidenschaft, Intensität und Kraft zu führen.
Alfred Delp wusste um die Kraft des Evangeliums von Gott, der Mensch unter Menschen wurde, wusste von seiner existenziellen, lebenspraktischen Bedeutung gerade auch in der ausweglosen Situation, in der Delp sich befand: „Der Mensch ist nicht mehr allein. (...) Es gibt nun keine Nächte mehr ohne Licht, keine Gefängniszellen ohne echtes Gespräch, keine einsamen Bergpfade und gefährlichen Schluchtwege ohne Begleitung und Führung. (...) Lasst uns dem Leben trauen, weil diese Nacht das Licht bringen musste. Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht mehr allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt.“
erschienen in:
Zeitschrift "miteinander" (12/2014)
Saskia Wendel
Prof. Saskia Wendel (geb. 1964) lehrt
Katholische Theologie am Institut für
Katholische Theologie der Philosophischen
Fakultäten der Universität Köln.