Tiefe Frömmigkeit, politische Brisanz
Nach dem Auftakt in Kuba, wo der Papst am Freitag mit dem russischen Patriarchen Kyrill eine gemeinsame Erklärung unterzeichnete, ist Franziskus in Mexiko angekommen. Noch am Vorabend hatte er auf dem Flug von Kuba nach Mexiko über Weltpolitik sinniert. Er ließ durchblicken, mit wie viel diplomatischem Geschick das heikle Dokument vorbereitet wurde, in dem sich beide Kirchenführer für den Schutz der verfolgten Christen weltweit einsetzen und endlich den Streit zwischen ihren Gläubigen in Russland und der Ukraine hinter sich lassen wollen.
Nur einen halben Tag später in Mexiko tritt die Weltpolitik in den Hintergrund. Es geht vor allem um soziale Fragen und um den Drogenkrieg in diesem großen Land - und um den positiven Einfluss der Jungfrau Maria auf die Gerechtigkeit. Das Schlüsselwort heißt jetzt nicht mehr Diplomatie, sondern Guadalupe.
Hinter diesem Namen verbirgt sich das wohl meist besuchte Marienheiligtum der Welt, und das hat alles, was zu einem populären Wallfahrtsort dazugehört. Vieles davon ist für aufgeklärte Europäer ein Grund zum Naserümpfen: eine Geschichte um eine Marienerscheinung, ein wundertätiges Marienbildnis und drum herum eine Basilika mit vielen Beichtstühlen. Davor Läden, die religiösen Kitsch verkaufen, fliegende Händler und viele Pilger aus der Unterschicht.
Papst Franziskus liebt Orte wie diesen noch mehr als seine Erfolge bei historischen Brückenschlägen. Er liebt die Marienheiligtümer von Aparecida in Brasilien und Lujan in Argentinien. Aber Guadalupe ist die Nummer eins. Mehrfach hatte er betont, dass die "Morenita" das eigentliche Ziel seiner Mexikoreise sei: jene Muttergottes in der Gestalt eines schwangeren Mestizenmädchens, die laut der Überlieferung im 16. Jahrhundert einem armen Indio erschienen ist und ihn beauftragt hat, eine Kirche zu bauen. Am Samstagnachmittag (Ortszeit) ist er endlich an diesem Ziel angekommen.
Wortlaut der Predigt von Papst Franziskus |
Wir haben von der Begegnung Marias mit ihrer Cousine Elisabeth gehört. Ohne Zögern, ohne Zweifel, ohne Langsamkeit geht sie, um ihrer Verwandten zur Seite zu stehen, die sich in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft befindet. Die Begegnung mit dem Engel hielt Maria nicht zurück, denn sie fühlte sich weder privilegiert, noch genötigt, sich vom Leben der Ihren abzukehren. Im Gegenteil, sie erfüllte eine Haltung, derentwegen man an Maria denkt und immer denken wird, mit neuem Leben und setzte sie in die Tat um: Sie ist die Frau des "Ja" - es ist ein "Ja" der Hingabe an Gott und zugleich ein "Ja" der Hingabe an ihre Mitmenschen. Es ist das "Ja", das sie aufbrechen ließ, um ihr Bestes zu geben, indem sie sich auf den Weg machte zur Begegnung mit den anderen. Diesen Evangelienabschnitt in diesem Haus zu hören, hat einen besonderen Geschmack. Maria, die Frau des "Ja", wollte in der Person des heiligen Indios Juan Diego auch die Bewohner dieses Gebietes von Amerika besuchen. Genauso wie sie sich auf den Wegen von Judäa und Galiläa bewegte, ging sie auch auf den Tepeyac, indem sie die Kleidung der Einheimischen trug und ihre Sprache gebrauchte, um dieser großen Nation zu dienen. Wie sie die Schwangerschaft von Elisabet begleitete, so begleitete und begleitet sie die "Schwangerschaft" dieses gesegneten mexikanischen Landes. Ebenso, wie sie für den kleinen Juanito gegenwärtig wurde, ist sie immer noch bei uns allen zugegen, besonders bei denen, die wie er spüren, dass sie "nichts wert" sind (Nican Mopohua, 55). Diese besondere, sagen wir: bevorzugte Erwählung richtete sich gegen niemanden, sondern war zum Nutzen aller. Der kleine Indio Juan, der sich selbst als "mecapal, Holzscheit, Schweif, Flügel" und als einen, "der anderen unterworfen ist", bezeichnete, (vgl. ebd.) wurde zum "sehr vertrauenswürdigen Botschafter". Bei jenem Tagesanbruch im Dezember 1531 geschah das erste Wunder, das später die lebendige Erinnerung all dessen sein sollte, was dieses Heiligtum hütet. In dieser Morgendämmerung, bei dieser Begegnung, weckte Gott die Hoffnung seines Sohnes Juan, die Hoffnung seines Volkes. Bei diesem Sonnenaufgang weckte und weckt Gott die Hoffnung der Kleinen, der Leidenden, der Vertriebenen und der Ausgeschlossenen, all derer, die empfinden, keinen würdigen Platz auf dieser Erde zu haben. Bei diesem Sonnenaufgang näherte und nähert sich Gott dem leidenden, aber belastbaren Herzen vieler Mütter, Väter, Großeltern, die gesehen haben, wie ihre Kinder fortzogen, verloren gingen oder ihnen sogar verbrecherisch entrissen wurden. An diesem frühen Morgen erfährt Juanito in seinem eigenen Leben, was Hoffnung ist, was die Barmherzigkeit Gottes ist. Er wird erwählt, um den Bau dieses Heiligtums zu beaufsichtigen, zu betreuen, zu bewachen und voranzutreiben. Wiederholte Male sagte er der Jungfrau Maria, dass er nicht die geeignete Person dafür sei, dass sie im Gegenteil, wenn sie dieses Werk voranbringen wolle, andere erwählen müsse, weil er nicht gebildet und gelehrt sei und nicht zur Gruppe derer gehöre, die dies tun könnten. Hartnäckig jedoch - mit der Hartnäckigkeit, die dem erbarmungsvollen Herzen des himmlischen Vaters entspringt - sagt Maria ihm, dass er ihr Botschafter sein werde. So gelingt es ihr, etwas zu erwecken, das er nicht auszudrücken vermochte, ein echtes Wahrzeichen der Liebe und der Gerechtigkeit: Im Bau dieses anderen Heiligtums, dem des Lebens, dem unserer Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen darf niemand draußen bleiben. Alle sind wir notwendig, besonders diejenigen, die normalerweise nichts gelten, weil sie "den Gegebenheiten nicht gewachsen" sind oder nicht "das nötige Kapital einbringen" für deren Aufbau. Das Heiligtum Gottes ist das Leben seiner Kinder - aller und in allen ihren Lebenslagen - besonders das der Jugendlichen ohne Zukunft, die einer Unzahl schmerzlicher und gefahrvoller Situationen ausgesetzt sind, und das der alten Menschen ohne Anerkennung, die in vielen Winkeln vergessen werden. Das Heiligtum Gottes sind unsere Familien, denen es am Nötigsten fehlt, um sich aufzubauen und aufzurichten. Das Heiligtum Gottes ist das Gesicht so vieler, die uns auf unseren Wegen begegnen. Wenn wir zu diesem Heiligtum kommen, kann uns dasselbe passieren, das Juan Diego passierte. Aus unseren Leiden, Ängsten, Verzweiflungen und Traurigkeiten auf die Mutter zu blicken und ihr zu sagen: "Was kann ich schon beisteuern, wenn ich kein Gelehrter bin?" Wir schauen auf die Mutter mit Augen, die sagen: Es gibt so viele Situationen, die uns die Kraft nehmen, die uns spüren lassen, dass es keinen Raum gibt für Hoffnung, für Veränderung, für Verwandlung. Darum kann uns ein wenig Stille gut tun, auf sie zu schauen, sie lange und ruhig anzuschauen und zu ihr zu sprechen wie jener andere Sohn, der sie sehr liebte: "Dich anschauen, Mutter, einfach anschauen, nur den Blick geöffnet halten; dich ganz betrachten - ohne dir etwas zu sagen, dir alles sagen, stumm und ehrerbietig. Nicht den Windhauch stören, der deine Stirn umspielt, nur meine verletzte Einsamkeit wiegen in deinen Augen einer verliebten Mutter und in deinem durchscheinenden irdenen Schoß. Die Stunden sinken dahin; aufgewühlt zersetzen die törichten Menschen mit ihrem Lärm den Unrat des Lebens und des Todes. Dich anschauen, Mutter; dich sanft betrachten, still wird das Herz in deiner Zärtlichkeit, in deinem keuschen liliengleichen Schweigen." (liturgischer Hymnus) Und in diesem, auf sie schauenden Verweilen einmal mehr hören, dass sie wieder zu uns sagt: "Was hast du, mein kleinster Sohn? Was betrübt dein Herz? (vgl. Nican Mopohua 107.118) Bin ich denn nicht hier, ich, die ich die Ehre habe, deine Mutter zu sein?" (ebd. 119). Sie sagt uns, dass sie die "Ehre" hat, unsere Mutter zu sein. Das gibt uns die Gewissheit, dass die Tränen der Leidenden nicht unfruchtbar sind. Sie sind ein schweigendes Gebet, das zum Himmel aufsteigt und bei Maria unter ihrem Mantel immer einen Platz findet. In ihr und mit ihr wird Gott Bruder und Weggefährte, trägt mit uns die Kreuze, damit wir von unseren Leiden nicht erdrückt werden. "Bin ich etwa nicht deine Mutter? Bin ich denn nicht hier? Lass dich nicht von deinen Leiden und Traurigkeiten besiegen", sagt sie uns. Heute sendet sie uns wieder neu aus; heute sagt sie uns wieder neu: "Sei du mein Botschafter, mein Gesandter, um viele und neue Heiligtümer zu bauen, viele Leben zu begleiten, viele Tränen zu trocknen." So gehe nur durch die Straßen deiner Nachbarschaft, deiner Gemeinschaft, deiner Pfarrgemeinde als mein Botschafter; errichte Heiligtümer, indem du mit den anderen die Freude über die Gewissheit teilst, dass wir nicht alleine sind, dass sie mit uns geht. "Sei du mein Botschafter, sagt sie uns, indem du dem Hungrigen zu essen gibst und dem Durstigen zu trinken; beherberge den Bedürftigen, bekleide den Nackten, besuche den Kranken! Hilf dem Gefangenen, vergib dem, der dich beleidigt hat, tröste den Traurigen, hab Geduld mit den anderen, und vor allem rufe unseren Gott an und bete zu ihm!" "Bin ich etwa nicht deine Mutter? Bin ich denn nicht hier?", wiederholt uns Maria. "Geh und baue mein Heiligtum, hilf mir, das Leben meiner Kinder, deiner Brüder und Schwestern, aufzurichten!" |
Schon vormittags hat er von der "Morenita", von ihrer zärtlichen Liebe für die Armen, die Ausgestoßenen, die Gescheiterten gesprochen. Er hat sie in seine Rede beim Staatspräsidenten einfließen lassen, wo er die politische und wirtschaftliche Elite an ihre Verpflichtung zum Gemeinwohl erinnert hat. Und er hat sie den mexikanischen Bischöfen, von denen manche immer noch wie Fürsten auftreten und den Kontakt mit den Mächtigen bevorzugen, ans Herz gelegt. "Guadalupe lehrt uns, dass Nähe und Selbsterniedrigung stärker sind als Gewalt", erklärt der Papst und fügt hinzu, die Bischöfe sollten sich vor allem um die Benachteiligten und die Indios kümmern.
Auch im Heiligtum von Guadalupe preist er vor allem die Liebe der Muttergottes für die Kleinen, die Leidenden, die Ausgestoßenen. Und er übersetzt sie als eine Botschaft des Trostes: "Lass dich nicht unterkriegen von deinen Schmerzen und deinen Traurigkeiten." Es ist eine Lehrstunde in der vom Papst geschätzten "Theologie des Volkes", in der traditionelle Frömmigkeit und politisch-soziales Engagement miteinander verschmelzen. Und am Ende, nach dem Gottesdienst, verharrt er fast eine halbe Stunde in Stille meditierend vor dem Bild, das sich vor fast 500 Jahren auf unerklärliche Weise auf dem Gewand des jungen Juan Diego gezeigt hat und das heute in katholischen Familien und Pfarreien überall auf dem amerikanischen Kontinent zu finden ist.
Quelle: kathpress