
"Straßenkinder brauchen vor allem Vertrauen"
"Straßenkinder brauchen jemand, dem sie vertrauen können. Jemand muss für sie da sein - auf der Straße und in ihrem Leben": Das sagt der Inder Santosh Kumar Padibandla, der dieses Schicksal bereits selbst durchlebt hat. Der 33-jährige Projektkoordinator im Don Bosco-Straßenkinderzentrum Navajeevan war als Kind jahrelang in den Straßen der Großstädte unterwegs, bis er Aufnahme ins Programm des Salesianerordens fand. Auf Einladung des Hilfswerks "Jugend Eine Welt" besuchte er Wien mit dem Generalsekretär der südasiatisichen Salesianer, Pater Noel Maddhichetty, und erzählte "Kathpress" zum "Tag der Straßenkinder" sein Leben.
Krach mit den Eltern und Neugier veranlassten den zehnjährigen Santosh, von seinem Zuhause in Hyderabad auszureißen und sich einer Gruppe von Straßenjungen anzuschließen. "Der Gedanke, mit ihnen im Zug nach Delhi zu fahren, lockte und erschien wie ein Spiel", berichtet er heute. Die blinden Passagiere wurden vom Kontrolleur in der Stadt Wangal aus dem Zug geworfen. Hier begann eine harte Zeit: Auf der Straße galt das Gesetz des Stärkeren, mit täglichem Kampf ums Essen, gegen das Wetter und die Polizei. "Man ist Krankheiten, Kälte und Regen, Drogen und Gewalt schutzlos ausgeliefert, leidet oft Hunger und ist von Betteln abhängig. Niemand fühlt sich für dich verantwortlich", schildert Santosh Kumar. Besonders Mädchen müssten Vergewaltigungen fürchten.
So gut wie unmöglich entkommt man aus eigener Kraft der Straße, so Kumars Erfahrung. Er selbst trug lange die Hoffnung mit sich, es eines Tages wieder zurück zu seiner Familie zu schaffen. Bis er bei einem Zugsunglück einen Unterarm und ein Bein verlor, sein Vater zu ihm ins Spital kam und bei seinem Anblick den Ärzten sagte: "Das ist nicht mein Sohn." Eine Welt brach für ihn zusammen. Zwar fiel ihm nach der Amputation das Betteln sogar leichter, sein Traum war jedoch zerstört. Santosh ging wieder auf die Straße, bettelte drei Jahre lang in Zügen und fuhr dabei von einer Großstadt zur anderen.
Abschied dauerte über drei Jahre
Santoshs Geschichte nahm aber dennoch noch eine positive Wendung. Als der mittlerweile 13-Jährige in der Stadt Vijaywada krank auf der Straße lag, entdeckten ihn Sozialarbeiter und drängten ihn dazu, ins nahegelegene Don Bosco-Zentrum zu kommen, um sich dort Medizin, Kleidung und Decken abzuholen. "Ich wollte wieder zurück auf die Straße, kam wenn ich etwas brauchte, und gab jedes Mal einen anderen Namen an, da ich noch kein Vertrauen hatte", erzählt er. Als er bei einem Besuch ehemalige Straßenkinder zur Schule gehen sah, wollte er deren Uniform haben und willigte nur deshalb ein, auch selbst in die Schule aufgenommen zu werden. Dort bleiben war noch keine Option. "Ich konnte mir nicht vorstellen, mich an Regeln zu halten, plante später wieder abzuhauen."
Dann aber gefiel ihm die Schule. "Meine Arbeit bestand nun darin, zu lernen und zu spielen. Ich konnte jedem vertrauen, weil alle Kinder waren. Das war neu. Und ich wollte die Menschen, die mir jeden Tag Liebe schenkten, an mich glaubten und mich motivierten, nicht enttäuschen", sagt Santosh Kumar heute. Dennoch habe es dreieinhalb Jahre gedauert, bis er in seinen Gedanken endgültig von der Straße Abschied nahm. Er schaffte den Schulabschluss, studierte dann Informatik und Sozialarbeit und schreibt derzeit an seiner Doktorarbeit in Menschenrechte - nebenbei zu seiner Leitungsaufgabe bei Don Bosco Navajeevan, wo er selbst in den 1990ern als Straßenkind gestrandet war. Er ist zudem verheiratet und hat zwei Kinder im Volksschulalter.
11 Millionen Straßenkinder
"Straßenkinder können nicht planen oder an die Zukunft denken, sondern sind mit dem Überleben heute beschäftigt", erklärt P. Noel Maddhichetty, Direktor der Koordinierungsplattform "BoscoNet" und Generalsekretär der Konferenz der südasiatischen Salesianerprovinzen. Allein in Indien betreibt sein Orden 92 große Straßenkinderzentren mit jeweils zwischen 20 und 100 Mitarbeitern, sogenannte "Shelters", wo es Unterstützung zum Leben auf der Straße sowie zum Ausstieg in die Normalität gibt. Dies geschieht durch Streetwork, warme Mahlzeiten, Notunterkünfte, Freizeitangebot, Kinder-Hotlines, Beratung, begleitete Rückführung in die Herkunftsfamilien sowie Schul- oder Berufskurse. "Ziel ist es, den Kindern ein gutes und eigenständiges Leben zu ermöglichen", so der Ordensmann.
Die Not, der die Salesianer zu begegnen versuchen, ist groß: Elf Millionen Straßenkinder leben laut Schätzungen in Indiens Städten. Ein großer Teil von ihnen stammt aus ländlichen Regionen des Subkontinents. Von dort aus brechen oft ganze Familien aus einer Notsituation Richtung Stadt auf, in der Hoffnung, dort eher zu überleben. "Irgendwelche Arbeit findet man schnell, etwa als Müllsammler oder -verwerter, doch ist sie schlecht bezahlt. Wegen der höheren Lebenskosten reicht das Geld oft nur für Nahrung, nicht aber für eine Unterkunft", berichtet Maddhichetty. Viele landen nach diesem Schema auf der Straße. Andere Familien wechseln aufgrund der Arbeitssuche alle paar Monate den Wohnort - was sich für die Bildung der Kinder verheerend auswirkt.
Kinder haben Rechte
Außer mit direkter Hilfe setzen sich die Salesianer in Indien jedoch auch mit Lobby- und Bewusstseinsarbeit für eine Besserung der Situation der Straßenkinder und für mehr Kinderfreundlichkeit allgemein ein. Maddhichetty: "Unsere Vision ist, dass Kinder Rechte haben und vom Staat und der Gesellschaft bekommen, was sie zum Leben brauchen, allen voran Bildung. Dass sich alle für Kinder interessieren, sie vor Gefahren schützen und sich verantwortlich für sie fühlen." Es gebe ein "Recht auf gutes Leben", betont der Ordensmann. Dieses müsse für Straßenkinder ebenso gelten wie auch für die Millionen Flüchtlinge, die an Indiens Grenzregionen zu Pakistan, Bangladesch, Myanmar und Sri Lanka von der Gesellschaft weitgehend verachtet in großer Armut leben.
Erreicht haben die Salesianer durch ihren Einsatz bereits viel: Etwa eine Änderung im Jugendstrafgesetz, aufgrund der straffällig gewordene Kinder Alternativen zum Gefängnis erhalten. Unter Mitwirkung des Ordens wurde mit Vijayawada die erste Stadt Indiens "kinderfreundlich", zudem entstanden interdisziplinäre Kinderschutzkomitees in allen Provinzen des Landes. Am Ziel wähnt sich Pater Maddhichetty damit noch lange nicht: Noch immer viel zu viele Kinder leben am Rande der Gesellschaft, und Indien gibt erst neun Prozent des Staatsbudgets für Kinder aus - obwohl diese die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Um hier eine Verbesserung zu erreichen, geht der umtriebige Ordensmann auch selbst auf die Straße und organisiert Demonstrationen.
Junge Österreicher bringen "Win-win-Situation"
Unterstützt wird das indische Salesianer-Programm u.a. durch das Hilfswerk "Jugend Eine Welt", das neben finanzieller Hilfe über den gemeinsam mit den österreichischen Salesianern getragenen Verein "Volontariat bewegt" jedes Jahr auch junge Österreicher als Freiwillige in die indischen Straßenkinderprojekte entsendet.
Eine "Win-win-Situation" sei dieser Austausch zwischen Mentalitäten, Sprachen und Kulturen, betont Maddhichetty: "Die Anwesenheit der Volontäre weckt das Interesse der Kinder, macht sie neugierig, warum jemand aus Europa zu ihnen kommt. Wenn sie erleben, dass sie für sie da sind und ihre Liebe, Zeit und Talente einsetzen, fassen sie schnell Vertrauen." Auch für die Freiwilligen sei das Jahr eine Schule: Sie erlebten in Indien Tätigkeiten und eine Spiritualität, die jenen aus der Zeit von Ordensgründer Johannes Bosco (1815-1888) sehr ähnle. Viele würden nach der Rückkehr in ihr Land zuhause selbst aktiv werden. Eines dieser Initiativen, das Jugendzentrum "Sale für alle", besuchte Maddhichetty im Rahmen seines Wien-Aufenthalts.