Migration theologisch als "Zeichen der Zeit" ernst nehmen
Migration ist nicht nur eine politische oder soziale Frage, sondern hat auch geistliche und spirituelle Dimensionen, die bisher viel zu wenig beachtet werden: Das hat die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak bei einem Vortrag am Mittwochabend in Wien unterstrichen. So trage Migration "das Potenzial für die Befreiung und Humanisierung des Einzelnen und der Gesellschaft" in sich, zeigte sich Polak überzeugt. Dies würden Schilderungen von Migranten nahelegen, die von einem geschärften Blick etwa für Unrecht und Ausgrenzung, aber auch für Widerstand und dem Ringen um Gerechtigkeit berichteten. "Migration schafft Situationen, in denen Utopien geboren werden können". Insofern müsse Migration als ein wichtiges "Zeichen der Zeit" und als "Dimension der Heilsgeschichte" begriffen werden.
Polak sprach als Eröffnungsrednerin zum 17. Internationalen Frauenkongress in Wien. Der Kongress, der noch bis 26. August im Wiener Kardinal König-Haus stattfindet, steht unter dem Thema "Translation - Transgression - Transformation" und wird von der "European Society of Women in Theological Research" (ESWTR) veranstaltet. (Infos: http://eswtr2017.univie.ac.at)
Flucht und Migration seien "keine Spezial- oder Nebenthemen" der Theologie, sondern "loci theologoci, glaubens- und theologiegenerative Orte par excellance", so Polak weiter. Daher bestehe die Aufgabe der Theologie heute darin, "den inneren Sinn der aktuellen Ereignisse im Kontext von Flucht und Migration fächerverbindend und multiperspektivisch zu erschließen und daraus Handlungskonsequenzen zu ziehen". "Utopieproduktiv" wirke die Erfahrung von Migration insofern, als Migration stets mit der Überwindung von Grenzen verbunden ist - seien dies territoriale, kulturelle, körperliche, soziale oder Zeitgrenzen. Insofern nämlich Migranten gleichsam Wanderer zwischen den Welten sind, verändere sich ihr Blick auf bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse und es entstünden gleichsam Visionen und Utopien einer anderen, gerechteren Gesellschaft.
Der biblische Glaube schöpfe aus ähnlichen Quellen, führte die Theologin weiter aus. So würde der Monotheismus diese Utopien einer "anderen Welt", eines "anderen Lebens" und des gelingenden Zusammenlebens "theologisch in messianische Hoffnungen, Verheißungen und zusagen transformieren" - etwa in die Zusage der Nähe des Reiches Gottes. Diese Erfahrungen gelte es auch in der europäischen Theologie wieder stärker ins Bewusstsein zu heben, schließlich seien die zeitgenössischen Theologien in Europa "großteils von Sesshaften entwickelt worden" - die Erfahrung von Migration hingegen könne eben diese "Sesshaften lehren, auf neue Weise glauben zu lernen".
Schließlich gelte es daran zu erinnern, dass auch biblische Migrationserfahrungen "nicht selten die Matrix darstellen, in die Gottes Offenbarung eingeschrieben wird". Die Bibelgeschichte der Menschheit beginne bereits mit Migration, mit der Vertreibung aus dem Paradies; auch die Geschichte Jesu von Nazareth nehme mit Flucht und Migration ihren Anfang: "Kern all dieser Narrative ist die Erfahrung, dass Gott inmitten größter Hoffnungslosigkeit neues Leben schaffen kann". Migration erschließe insofern "spezifische Möglichkeiten der Gotteserfahrung", insofern sie auf der einen Seite Menschen entwurzle und Ungerechtigkeiten aussetze - auf der anderen Seite aber auch dazu beitrage, "Ressourcen der Liebe und Solidarität" freizusetzen, sagte Polak.
Schließlich skizzierte die Theologin drei konkrete pastorale Konsequenzen, die es aus einer solchen migrationstheologischen Wende zu ziehen gelte: Zum einen ein Primat der Praxis. Die Wiedergewinnung der "migrantischen Identität des Christentums" stelle den Glauben schließlich in die Pflicht, Nachfolge zuvorderst als "praktische Frage" zu verstehen. Eine weitere Konsequenz einer "entgrenzenden biblischen Identität" wäre der unbedingte "Kampf gegen Rassismus und der Einsatz für Gerechtigkeit". Die Pfarren und Gemeinden hätten schließlich die Kraft, zu Schutzräumen zu werden, in denen Migrantinnen und Migranten ihre Erfahrungen schildern und reflektieren und auch die Sesshaften vor Ort in ihrem Glaubensleben herausfordern.
Quelle: kathpress