"Am mächtigsten ist das, was nicht da ist"
Was verbindet die Anschläge auf die Mitarbeiter des Satire-Magazins "Charlie Hebdo" vom Jänner 2015 mit den Folterbildern aus Abu Ghraib aus dem Jahr 2004 und Bilder von IS-Terroristen, die an einem ägyptischen Strand 2015 koptische Christen köpften? Es ist die nackte, rohe Gewalt; es ist aber auch ein hohes Maß an (Selbst)Inszenierung der Täter - und nicht zuletzt ein kollektives Erschrecken vor eben diesen Taten.
All diese Momente schießen im Motiv des Gespenstes, des "Religionsgespenstes" zusammen, ist der Salzburger Theologe Gregor Maria Hoff überzeugt. Solche Gespenster zeichnet aus, dass sie auf der Grenze von Leben und Tod "lebendig" werden, dass sie eine eigene Ästhetik haben, menschliche Urängste berühren - und dass sie aus einem "religiösen Schock" entstehen.
In seinem neuesten Buch "Religionsgespenster. Versuch über den religiösen Schock" (Verlag Ferdinand Schöningh) geht Hoff diesem Phänomen kultureller Codierungsmuster nach - von zeitdiagnostischen Beobachtungen über literarische Quellen und Beispiele bis hin zu theologischen Tiefenbohrungen: Allüberall tauchen Gespenster-Metaphern auf, um das Numinose, das "fascinosum et tremendum" zu bezeichnen.
Herr Prof. Hoff, Sie benennen in Ihrem Buch konkrete Phänomene religiöser Gewalt, Phänomene, die konkrete Orte wie "Charlie Hebdo" oder "Abu Ghraib" bezeichnen. Warum greifen Sie da auf die Metapher des Gespenstes zurück? Was bietet das für einen Mehrwert?
Das Gespenst bezeichnet eine Figur des Erschreckens - und gleichzeitig eine Figur, die fasziniert. Damit sind wir gleich schon bei einer klassischen Definition des Heiligen gelandet, das sowohl "fascinosum et tremendum" kennt, das fasziniert und ängstigt und abstößt zugleich. Tatsächlich wird heute Religion oft mit gespenstischen Zügen beschrieben. Andererseits taucht der Begriff des Gespenstes heute immer wieder auch zur Beschreibung des vermeintlich unerklärlichen Phänomens des Fortlebens von Religion in der späten Moderne auf - so beginnt etwa Peter Sloterdijk sein Buch "Du musst dein Leben ändern" mit dem Satz "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst der Religion".
Gregor Maria Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg
|
... wobei doch gerade der Name Sloterdijk ein Indiz dafür sein könnte, dass die Metapher des Gespenstes, welches umgeht in Europa - abgesehen vom historisch-spielerischen Verweis auf das Kommunistische Manifest - ein bloßer Ästhetizismus ist...
Gewiss, diese Gefahr liegt auf der Hand - aber ich habe ja Sloterdijk nur angeführt, um aufzuzeigen, dass sich die Metapher im Bezug auf Religion einer gewissen Beliebtheit erfreut. Aber der Verweis eingangs auf Abu Ghraib und "Charlie Hebdo" zeigt doch recht gut, dass es mir um mehr geht - nämlich um ein Erschrecken, welches genau auf der Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Greifbarem und Ungreifbarem, Beherrschbarem und Unbeherrschbarem seinen Ort findet.
Ein Gespenst kommt nicht aus dem Nichts, es braucht ein gewisses Setting, um seine destruktive, ängstigende Macht zu entfalten. Was bedeutet das auf Religion übertragen?
Das bedeutet, dass Religionsgespenster auf einem religiösen Schock beruhen. In säkularen Gesellschaften löst z.B. islamistischer Terror nicht nur Angst aus, sondern er versetzt diesen Gesellschaften einen Schock - denn Religion ist auf einmal wieder da, ungezügelt, nicht einhegbar, unbeherrscht. Und sie trifft uns unvermittelt: Die islamistischen Attentäter leben einfach unter uns, nah und doch kulturell fern. Der damit einhergehende Schock, eine Art gesellschaftliches Multiorganversagen, hinterlässt eine Leere, die gefüllt wird durch ein Religionsgespenst - z.B. die Chimäre eines per se gewaltbereiten Islam. Ein Zerrbild der Religion - und doch ein Bild, das uns Angst macht.
Je mehr sich säkulare Gesellschaften also einer gewissen Sensibilität für religiöse Sprachformen, ja, für Religion überhaupt entschlagen, desto anfälliger werden sie für Schockerfahrungen?
Ja, so könnte man das sagen. Das betrifft im Übrigen nicht nur Schockerfahrungen, die mit Gewalt einhergehen - auch die Tatsache, dass religiöse Menschen ihr Leben in einer säkularen Gesellschaft dennoch weiterhin streng an religiöse Moralvorstellungen und Regeln binden, kann so einen Schock auslösen - Unverständnis, Kopfschütteln, Distanzierung, auch Ängste. Dieser religiöse Schock hat letzten Endes wohl damit zu tun, dass Religionen an etwas sehr tiefes rühren, nämlich an die Leben-Tod-Grenze. Sie erinnern den Menschen selbst in den schillerndsten, lebensvollsten Momenten daran, dass er sterblich ist, dass er nicht mehr sein wird - insofern ist eine Abwehrreaktion gegen Religion eigentlich gut nachvollziehbar...
Noch einmal zurück zum islamistischen Terror: Liegt in der Metapher des Religionsgespenstes nicht auch ein stückweit die Gefahr der Sakralisierung? Ist die Gewalt, wie sie etwa der IS ausübt, nicht gerade deshalb erschreckend, weil sie wahllos jeden immer und überall treffen kann?
Wenn die Metapher des Religionsgespenstes in diesem Fall es schafft, Sakralisierungsmuster aufzudecken, so hat sie doch genau ihren Sinn erfüllt! Denn sie zeigt auf, dass der Begriff "Islamismus" eine Konstruktion ist - ein kultureller Code, der von beiden Seiten aus errichtet und gepflegt wird: Die IS-Terroristen sakralisieren damit ihre Gewalt und rechtfertigen sie - und wir nutzen den Begriff bzw. das Gespenst des Islamismus, um darauf all unsere Ängste - auch gesellschaftliche und politische - zu projizieren. Insofern kann man sagen, dass dasjenige am mächtigsten ist, was nicht da ist...
Als Kind verjagt man Gespenster, indem man einfach das Licht anknipst. Was wäre im übertragenen Sinne Ihr Antidot? Genügt das Licht der Vernunft?
Mit Aufklärung kommt man schonmal sehr weit... Man kann mit nüchternem Verstand und kulturgeschichtlich geschärftem Blick aufzeigen, wie sich Religionen stets selbst inszenierten und wie sie Teil von Inszenierungen wurden und sich so instrumentalisieren ließen. Das hat es immer schon gegeben. Das beste biblische Antidot bietet wohl der Kern der christlichen Botschaft selbst: die Person Jesus von Nazareth - von dem wir sagen, dieser Mensch ist Gott für uns. Diese Aussage allein hat auf der einen Seite etwas Gespensterhaftes - tatsächlich erscheint Jesus den Jüngern ja auch in den Evangelien nicht selten wie ein Gespenst, etwa bei seinem Gang über den See Genezareth. Doch die Theologie stellt ein Rüstzeug zur Verfügung, um dieses Gespenst gleich wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen.
Sie spielen auf die christologische Formel des Konzils von Chalcedon (451) an?
Exakt. Diese Formel entmystifiziert das Jesus-Gespenst und schafft es doch, den Schleier der Heiligkeit nicht ganz zu lüften, wenn es heißt, dass in Jesus "Sohn und Herr, in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar" existieren. Diese Formel ist insofern hochgradig vernünftig, da sie erlaubt, das Heilige zu bezeichnen, jedoch vor ihm nicht etwa verängstigt zurückzuschrecken, sondern es von einem anderen, positiven Seite her zu betrachten: In Jesus, dem Gekreuzigten, der geschundenen Kreatur, kommt zugleich die ganze schöpferische Lebensmacht Gottes zum Ausdruck. Das ist wohl das stärkste Antidot, welches wir gegen gewaltverherrlichende Religionsgespenster aufbieten können.
Das Interview führte Henning Klingen