Religionsvertreter: Religion wichtiger Gegenpol zu Leistungslogik
Die unterstützende Wirkung von Religion bei der Ausbildung einer gefestigten Identität in einer pluralen Gesellschaft haben am Mittwoch an der Universität Wien Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche, des Judentums und des Islams hervorgehoben. Der Mensch stehe vor der Herausforderung, aus verschieden geprägten "Einzelteilen" eine stimmige Persönlichkeit zu entwickeln und "da hilft die Religion schon, denn wir glauben, dass Gott jeden einzelnen Menschen liebt so wie er ist", erläuterte die Dekanin der katholisch-theologischen Fakultät, Sigrid Müller, bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Religionen in einer pluralen Gesellschaft". Religion schaffe einen "geschützten Rahmen", in dem sich jeder Einzelne ohne Druck entwickeln könne.
Auch im Umgang mit "unserer gegenwärtigen Leistungsgesellschaft" habe Religion ein "hohes Potenzial", befand Martin Rothgangel, Dekan der evangelisch-theologischen Fakultät. Denn Identität verstehe sich im Glaubenskontext immer schon als etwas von Gott Geschenktes. "Was ich bin, was ich kann und was ich nicht kann, ist mir immer schon von Gott geschenkt."
Ähnlich bezeichnete Judaistik-Professor Gerhard Langer die Religion als "gesundes Korrektiv" bei der Identitätsausbildung. Im religiösen Kontext brauche es keine Vorleistung, um als Mensch anerkannt zu werden. Aus diesem Grund halte er die aktuelle Debatte um eine Kürzung oder Abschaffung der Mindestsicherung für unmenschlich - "weil sie den Menschen nicht als Geschöpf nimmt, das da und als solches lebenswert ist, bevor es noch irgendetwas geleistet hat".
Auf den dialogischen Charakter der Persönlichkeitsausbildung verwies Abdullah Takim vom Institut für islamisch-theologische Studien. "Ohne ein Du kann ein Ich nicht definiert werden." Dieses Gegenüber sei allerdings kein homogenes Gebilde, sondern setzte sich aus verschiedensten Aspekten zusammen. Menschen auf ihre Herkunft, Religion oder Bildung zu beschränken, sei "kurzsichtig": Das Ergebnis sei Ausgrenzung und somit das Gegenteil dessen, was eine pluralitätsfähige Gesellschaft anstreben sollte.
Europäischer Islam nötig
Angesprochen wurde auch die Wechselwirkung von Theologie und Gesellschaft. Dekanin Müller sah es als Aufgabe der Theologie, nicht nur die eigenen Glaubenstraditionen wissenschaftlich zu durchleuchten, sondern auch in Dialog mit der Gesellschaft zu treten, damit sich Glaube somit der "vernünftigen Auseinandersetzung" stelle. Theologie müsse zeigen, "welche aus der eigenen Tradition erwachsenen Einflüsse in der Geschichte geltend wurden, wie sie die Gesellschaft beeinflusst haben und wie man sie heute verstehen und positiv für ein Miteinander anwenden kann".
Der Islam stehe in genau dieser Hinsicht vor einer doppelten Herausforderung, befand der Islamgelehrte Hakim. Einerseits brauche es die Herausbildung einer islamischen Theologie im Kontext pluraler europäischer Gesellschaften - "eine noch sehr junge Bemühung" -, andererseits gelte es die Pluralität in der eigenen Religion, die sich auch in den vielfältigen Rechtsschulen zeigten, theologisch zu verarbeiten. Der Islam sei herausgefordert, "eine pluralistische Theologie in einem europäischen Kontext zu entwickeln". Die bloße Übernahme und Anwendung von Theologien aus islamischen Ländern in Europa würde nicht funktionieren.
Mehr Wissen über Religion
Von der Gesellschaft forderten die Experten konstruktiven Umgang mit Religion und Wissen über sie, beginnend schon im Kindergarten, wie Christoph Berger, Rektor der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien/Krems, betonte. Geeignete Pädagogen müssten dafür ausgebildet werden. Diesem Anliegen widme man sich an der KPH Wien/Krems - Ausbildungsstätte für "Religionslehrer fast aller Religionen in der Primarstufe" - nicht nur bei den Fachkräften. "Wir versorgen eigentlich alle Studierenden, auch die klassischen Volksschullehrer, mit dem Denken der Religionsgemeinschaften", so der Hochschulrektor.
Immer wichtiger werde heute das vertieftes Verständnis für den anderen sowie das "Bewusstsein schon bei jungen Menschen, dass sie eine eigene Religion oder eigene Haltung haben", betonte Berger. Denn nur aus dieser gesicherten Haltung heraus könne ein gutes Verhältnis zum Anderen gelingen. Es gelte, eine Kultur der Anerkennung zu schaffen, die es ermöglicht, den eigenen Glauben mit dem des anderen in Beziehung zu setzen, ohne diesen verändern zu wollen.
Dekanin Müller verwies in diesem Zusammenhang auf ein Projekt an der Universität Wien, das "ökumenische Erkundungen" zwischen der katholischen, der evangelischen und orthodoxer Kirche zum Ziel hat. Die beste Erfahrung sei, "wie andere Menschen denken, wie sie ihre Religiosität leben, dass man nicht nur zuhört". Das Denken und Fühlen des anderen gelte es "mitzuverstehen", denn: "Wir sind nicht nur rationale Menschen."
Quelle: kathpress