Schönborn: Demokratie braucht "Einigkeit über Unabstimmbares"
Die Demokratie ist laut Kardinal Christoph Schönborn auch für die katholische Kirche heute eine Selbstverständlichkeit und "normal". Diese in Österreich vor 100 Jahren etablierte Staatsform braucht freilich ein Wertefundament, denn der freiheitliche, säkularisierte Staat "lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", zitierte der Wiener Erzbischof am Dienstagabend im Wiener Kreisky-Forum das bekannte Diktum des deutschen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde. Demokratie brauche "Einigkeit über das Unabstimmbare" und lebe von den Tugenden und der moralischen Substanz ihrer Bürger und Repräsentanten, betonte Schönborn. Eine etwaige Preisgabe grundlegender Menschenrechte sei damit unvereinbar.
Der Kardinal, der sich selbst als "fast gleich alt" wie die 1945 gegründete Zweite Republik bezeichnete, beleuchtete in seinem Vortrag im "Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog" das Verhältnis von Kirche und Demokratie in Österreich. Die "höchst komplexe Geschichte" seit der Republiksgründung 1918 beschrieb er dabei als wechselseitigen "Lernprozess". Eine unüberholbare Vorgabe sei für die Kirche die jüdisch-christliche Glaubensüberzeugung von der gottgegebenen Würde aller Menschen, die bereits auf der ersten Seite der Bibel formuliert sei. Nicht umsonst habe der antike Philosoph Kelsos, um 178 n.Chr. Verfasser der ältesten Streitschrift gegen das Christentum, diese Überzeugung - die auch die Grundlage der Menschenrechtsdeklaration bildet - als "Sprache des Aufstands" gebrandmarkt, so Schönborn. Aktuelles Thema sei die gleiche Würde aller etwa beim Umgang mit "Fremden", denen Nächstenliebe ebenso gebühre wie Einheimischen.
Als wichtige Aufgabe für das Verhältnis von Kirche und Demokratie bezeichnete der Kardinal die Anerkennung des fundamentalen Unterschieds zwischen Geistlichem und Weltlichem, Religion und Politik gemäß dem Jesus-Wort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist". Die Christenheit habe um diese Anerkennung Jahrhunderte lang ringen müssen, im Islam stehe sie noch aus. Angesichts der Pluralisierung der religiösen Landschaft sei diese Trennung jedoch unverzichtbar, sonst herrsche Theokratie, aber keine Demokratie, wies Schönborn hin.
Freilich bedeute das nicht Abstinenz der Religionsgemeinschaften von jeglicher Gesellschaftspolitik. Der Philosoph Jürgen Habermas habe zurecht eingefordert, dass Religion in der postsäkularen Gesellschaft Anteil am demokratischen Diskurs haben solle, da sie wertvolle Sinnstiftungs- und Begründungspotenziale berge. Für das Christentum stelle sich dabei die Aufgabe, seinen Glaubensgehalt in eine allgemein verständliche "säkulare Sprache" zu übersetzen.
Bewegte Geschichte von Piffl bis König
In einem historischen Rückblick erinnerte Kardinal Schönborn an markante Etappen im Verhältnis von Demokratie und Kirche mit wegweisenden Persönlichkeiten wie Kardinal Friedrich Gustav Piffl, Wiener Erzbischof von 1913 bis 1932, bis Kardinal Franz König.
Piffl sei noch - "heute unvorstellbar" - vom höchsten Staatsrepräsentanten, Kaiser Franz Josef, zum Erzbischof ernannt worden. Seit Konstantin sei der jeweilige Kaiser als Schutzherr der Kirche betrachtet worden. Umso bemerkenswerter war laut Schönborn die positive Reaktion der österreichischen Bischöfe auf den Wechsel der Staatsform vor 100 Jahren. Schon vor Kriegsende, am 3. November 1918 habe Piffl die Entstehung demokratisch verfasster Nationalstaaten - darunter "Deutsch-Österreich", wie es damals hieß - begrüßt und die Gläubigen zur "unbedingten Treue" gegenüber diesem rechtmäßig bestehenden Staat aufgefordert. Ähnliches stand in einem Hirtenbrief vom 23. Jänner 1919 nach der Abdankung Karls I. zwei Monate zuvor.
Kardinal Piffl, der nach dem Krieg aus eigenem Antrieb den Titel des "Fürsterzbischofs" fortan ablehnte, zitierte im Kontext der zerfallenden Monarchie auch den Kirchenlehrer Thomas von Aquin mit dessen Idee einer "Teilhabe möglichst aller" an der Regierung eines Staates. Der Dominikanerorden, dem Schönborn ebenso wie Thomas angehört, weist hinsichtlich seiner Organisation bis heute starke demokratische Elemente auf. Solches in der Staatsführung zu berücksichtigen hätte den Menschen historische Phasen wie jene des Absolutismus "erspart", zitierte Schönborn seinen Vorgänger Piffl.
Die Zwischenkriegszeit und deren gewaltsame Konflikte zwischen Christ- und Sozialdemokraten streifte Schönborn nur kurz; die Kirche habe damals bedauerlicherweise auf das eine Lager gesetzt und damit die Kluft befördert. Gelernt hätten aus dieser Zeit der Spaltung sowohl der Staat als auch die katholische Kirche; letztere im "Mariazeller Manifest" von 1952 mit der dort festgehaltenen Absage an jede parteipolitische Bindung der "freien Kirche in einer freien Gesellschaft". Diese Frucht eines Studientages im Vorfeld eines Katholikentages im steirischen Marienwallfahrtsort präge das Staat-Kirche-Verhältnis in Österreich bis heute, so Schönborn. Auch die über Jahrzehnte gespannte Beziehung zur Sozialdemokratie sei dadurch auf eine neue Basis gestellt worden - namentlich durch Kardinal König mit dessen berühmter Rede 1973 vor dem ÖGB-Präsidium und der von ihm (und Bruno Kreisky) begründeten Tradition des regelmäßigen Gedankenaustausches zwischen dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz und dem jeweiligen Bundeskanzler.
Keine "Äquidistanz", kein "Ghetto"-Dasein
Missverständnisse gebe es oft um die "Äquidistanz" der Kirche zu den Parteien, wies Schönborn hin: Es seien die Parteien, die ihre Nähe oder Distanz zu einer Kirche bestimmten, die unaufgebbaren Grundsätzen wie etwa dem Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod verpflichtet sei. Kardinal König sei übrigens 1975 beim Konflikt um die "Fristenlösung" der einzige Vorsitzende einer europäischen Bischofskonferenz gewesen, der im Sinne eines "Hier können wir nicht mit" demonstrierend auf die Straße ging - "ganz gegen sein Naturell", wie Schönborn anmerkte.
Kardinal König sei ungeachtet dieser "offenen Wunde" beim Umgang mit Abtreibungen ein allseits geachteter Brückenbauer zu allen politischen Lagern gewesen. Schönborn wies darauf hin, dass es heute Katholiken in allen Parteien gebe. Und das sei gut so, meinte der Kardinal, denn laut dem Zweiten Vatikanischen Konzil können Laienchristen ihr Apostolat auch im Bereich der Politik ausüben. Nur dem Klerus sei parteipolitische Abstinenz auferlegt, was aber "kein katholisches Ghetto" bedeute. Im Sinne des Gemeinwohls nehme die Kirche das Recht in Anspruch, sich in Grundsatzfragen zu Wort zu melden - wie andere gesellschaftliche Kräfte auch.
Konkordat sichert kein "Vorrecht"
In der Diskussion stellte sich Schönborn gegen den Vorwurf, mit dem 1957 von der Zweiten Republik anerkannten Konkordat sei eine dem Pluralismus widersprechende Bevorzugung der katholischen Kirche gegeben: Diese völkerrechtlich bindende Übereinkunft Österreichs mit dem Heiligen Stuhl sei vielmehr die "Messlatte" auch für den Umgang mit den 15 anderen staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften: "Die katholische Kirche hat keine Rechte, die nicht auch die anderen haben", wies Schönborn auf den öffentlich-rechtlichen Status hin.
Der Wiener Erzbischof bekannte sich auch zu den unter allen Religionen vorfindlichen Wahrheitsanspruch, der freilich nicht im Widerspruch zur Entscheidungsfreiheit des Menschen stehe. Gott selbst respektiere diese Freiheit, somit könnten auch Religionsgemeinschaften diese nicht ausschalten.
Der von Isolde Charim moderierte Abend im Wiener Kreiskyforum stand im Rahmen des laufenden "Republiksjubiläums" (www.oesterreich100.at). In diesem "europäischen Ort des Denkens" sind Kirchenvertreter selten zu Gast, zuletzt war dies Caritas-Präsident Michael Landau; Kardinal Schönborn nannte seine Einladung "eine Besonderheit", er fühle sich geehrt.
Quelle: kathpress