Theologe: Wer Vielfalt bekämpft, schwächt auch die Menschenrechte
Wer auf die Devise "illegale Migration stoppen" setzt, wendet dabei ein "Gift" und "politisches Betäubungsmittel" ein: Davor hat der Wiener Religionspädagoge Martin Jäggle in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "OrdensNachrichten" (ON) gewarnt. In der Gesellschaft sei zwar ein Bedürfnis nach Ausgrenzung und Abgrenzung feststellbar, durch Bekämpfung der Vielfalt werde jedoch das "Gegeneinander" gestärkt statt in einer "Gesellschaft der Vielfalt" den Zusammenhalt zu fördern. "Wer Vielfalt bekämpft, schwächt auch die Menschenrechte", mahnte der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Vielfalt sei in jeder demokratischen Gesellschaft Realität und entstehe nicht erst durch Migration, erinnerte der frühere Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Dies werde oft übersehen. Zwar liege auf der Hand, dass Vielfalt auch mit Konflikten verbunden sei, das eigentliche Problem sei dabei aber "nicht das Phänomen an sich, sondern manche Formen des Umgangs damit". Ängste, Phobien oder einfach Vorbehalte sollten nicht verdrängt werden, es gelte aber, in diesem Bereich bestehende "Lähmungen" zu überwinden.
Positiv bewertete Jäggle den Umgang mit Religionsfreiheit seitens der katholischen Kirche, die hier zu einem "glaubwürdigen Akteur" und Vorbild aller Gläubigen geworden sei. Zum Ausdruck komme das etwa in Glück- und Segenswünschen zu hohen Festen anderer Religionen oder, "wenn Diffamierung und Polemiken entgegengetreten und Zusammenarbeit gesucht wird".
Segregation entgegenwirken
Unter dem Schlagwort "Vielfalt stärkt" heben Österreichs Ordensgemeinschaften derzeit ihren Einsatz für eine "Kultur des verschiedenen Miteinanders" hervor. Auch die Ordensschulen seien hier Vorreiter, befand Jäggle, seien die Gründungen doch vielfach deshalb erfolgt, um "Bildung für alle" zu ermöglichen. Wo dieses Bemühen schwinde, gehe auch der ursprüngliche Ordensauftrag verloren, weshalb die Schulen sich immer wieder die Frage stellen müssten: "Tun wir das uns Mögliche, um gesellschaftlicher Segregation entgegen zu wirken?"
Im Wissen um den einzigartigen Eigenwert der christlichen Tradition könnten Ordensschulen "in der religiösen Pluralität ein Geschenk Gottes sehen", ohne in die Falle der Gleichgültigkeit zu gehen. Jäggle: "Sie können Andersgläubige würdigen, ohne sie zu vereinnahmen. Auf der Basis ihrer religionssensiblen Schulkultur kann eine Religionen-sensible Praxis etabliert werden, die Vielfalt fruchtbar macht und Konflikte bearbeitet."
Lange Verachtung nicht schnell tilgbar
Angesprochen auf das Verhältnis von Judentum und Christentum befand der Präsident des Koordinierungsausschusses:
Die Jahrhunderte der kirchlichen 'Lehre der Verachtung' gegenüber Juden sind nicht in wenigen Jahrzehnten tilgbar.
Jede Gemeinde sei in die Pflicht genommen individuell zu entscheiden, "ob sie das Jüdische im Christentum entdecken will, das Alte Testament als 'Hebräische Bibel' würdigt, die folgenreiche Polarisierung von 'Gesetz oder Evangelium' überwindet und ob sie sich dem lokalen Anteil an der Schoa stellt".
Eine neue Chance dafür sah Jäggle ab kommenden Dezember, wenn die Lesungen aus der revidierten Einheitsübersetzung stammen: Versucht werde in den dann in den Gottesdiensten verlesenen Bibeltexten, sich stärker am hebräischen Original zu orientieren.
Quelle: kathpress