Mertes: Missbrauchskrise verlangt tiefe kirchliche Strukturreform
Die kirchliche Missbrauchskrise, die medial durch die Enthüllungen in Irland, den USA und nun durch die vorab in Auszügen publik gemachte Studie in Deutschland erneut in den Fokus geraten ist, ist kein lokales Phänomen, sondern betrifft die gesamte Weltkirche und verlangt zugleich nach einer tiefen kirchlichen Strukturreform. Das hat der Jesuit und frühere Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, P. Klaus Mertes, im "Kathpress"-Interview betont. Die jüngsten Enthüllungen würden aufzeigen, dass das Problem der Vertuschung bislang viel zu wenig beachtet wurde; konkret angegangen werden müssten laut Mertes die Frage nach einer innerkirchlichen Gewaltenteilung und das Problem der männerbündischen Strukturen. Beides hänge eng mit dem Problem der Vertuschung zusammen.
"Die gegenwärtigen kirchlichen Strukturen verhindern tatsächliche Aufklärung", führte Mertes aus. Durch Loyalitätsverhältnisse und eine fehlende Gewaltenteilung in den kirchlichen Leitungsstrukturen sei die Kirche "ganz offensichtlich nicht in der Lage, das Problem des klerikalen Machtmissbrauchs angemessen anzugehen". Es gehe daher "um mehr als um das Versagen einzelner Personen: Wir fördern das Versagen von Personen, wenn wir die Strukturdebatte vermeiden". Konkret kritisierte Mertes mangelnde Transparenz bei Missbrauchsverfahren in der Glaubenskongregation. Es müsse auch innerkirchlich Einzug halten, was staatlicherseits selbstverständlich ist: Die Trennung von Kläger, Verteidiger und Richter.
Weiters müsse man genauer beleuchten, "wie kirchliche Karrieren konstruiert werden". Das habe oftmals mit männerbündischen Loyalitätsverhältnissen zu tun, die einer Aufklärung und Transparenz etwa beim Thema Missbrauch entgegenstehen würden. Wenn diese Themen nicht bewusst angegangen werden, sehe er schwarz für den Fortbestand der Kirche insgesamt: "Dass die Kirche in der jetzigen Form und den jetzigen Strukturen so überleben wird, kann ich mir nicht vorstellen. Die Sache ist raus - Missbrauch und Vertuschung durch Kleriker hat ein solch epidemisches Maß angenommen, dass damit die Glaubwürdigkeit von Kirche insgesamt tief erschüttert wurde".
Auch sei ein Ende der Enthüllungen noch lange nicht in Sicht, führte Mertes weiter aus: So sei er überzeugt, "dass das Missbrauchsthema langfristig eine weltkirchliche Bedeutung bekommen wird" - schließlich würden die strukturellen Probleme auch in den anderen Ortskirchen bestehen. Er persönlich gehe etwa davon aus, dass es zu Enthüllungen in Polen kommen werde: "Die Dinge liegen ja zum Teil bereits auf dem Tisch, sie lösen nur noch keine Empörung aus wie bei uns". Daher sei es auch nicht angebracht, wenn andere Länder nun "mit dem Finger auf die Schmuddelkinder Deutschland, Irland oder die USA zeigen", mahnte Mertes. Man dürfe sich daher nichts vormachen: "Weltkirchlich betrachtet stehen wir bei der Aufarbeitung und Aufklärung in Fragen des Missbrauchs noch ganz am Anfang".
Quelle: kathpress