10 Jahre ICARUS: "Analog-kulturelles Erbe digital erschließen"
Das Internationale Zentrum für Archivforschung ICARUS hat am Freitagabend in der Wiener Hofburg sein zehnjähriges Bestehen gefeiert. Der Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Thomas Winkelbauer, der Mathematiker Klaus Taschner, Charles Farrugia vom Europäischen Zweig des Internationalen Archivrates sowie zahlreiches Fachpublikum aus dem In- und Ausland gratulierten bei dem Festakt unter Ehrenschutz von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka dem in Wien beheimateten Netzwerk und dessen Präsidenten Thomas Aigner, der zugleich Direktor des St. Pöltner Diözesanarchivs ist.
Das Projekt startete "ursprünglich mit der Absicht, die Urkunden der niederösterreichischen Stifte und Klöster zu digitalisieren und online verfügbar zu machen", blickte Aigner im Gespräch mit "Kathpress" zurück. 2008 ging daraus ICARUS hervor - ein international tätiges Projekt mit nunmehr 180 Mitgliedern aus 34 europäischen Ländern, den USA, Kanada und dem Irak, darunter u.a. Archive, wissenschaftliche Einrichtungen und Bibliotheken. ICARUS sei laut binnen weniger Jahren von einer kleinen regionalen Initiative zu einem der wichtigsten Netzwerke im Archivbereich geworden.
Wie der Werdegang des Projekts gezeigt habe, seien im heutigen digitalen Zeitalter auch unkonventionelle Allianzen von immer größerer Bedeutung, erklärte Aigner: Außer mit Kollegen kooperiere das Netzwerk mit vielen Partnern aus der Technologie und anderen Wissenschaftsbereichen, "um das analog-kulturelle Erbe digital zu erschließen". Auch mit der Wirtschaft gebe es Allianzen, um Knowhow und Erfahrung auszutauschen sowie die finanziellen Grundlagen sicherzustellen.
Google der Vergangenheit
In seinem zehnjährigen Bestehen hat ICARUS bislang an die 650.000 Urkunden aus Mittelalter und Neuzeit virtuell verfügbar gemacht, zwei Drittel davon im Rahmen der Plattform "Monasterium" (www.monasterium.net). 26 Millionen Kirchenmatriken verschiedener Konfessionen und Länder wurden in das Online-Portal "Matricula" (www.matricula-online.eu) eingespeist. Das regionalhistorische Nachschlagewerk Topothek (www.topothek.at), ein Online-Archiv aus Fotos und Ansichtskarten, entstand ebenfalls unter dem Dach von ICARUS, ebenso wie die Plattformen "Archivnet", "Crossborderarchives" und der "Europäische Archivblog".
Der Ansatz, für jedermann und jederzeit per Mausklick Zugang zu historischen Quellen zu schaffen, machte ICARUS zum Teil der Umsetzung des EU-Flagship-Projekts "Time Machine", das sich den Traum "virtueller Zeitreisen" an die Fahnen geheftet hat. 250 europäische Partner aus 32 Ländern bewerben sich dabei gemeinsam um eine Milliarde Euro Forschungsgelder für die nächsten zehn Jahre mit dem Ziel, ein "Facebook oder Google der Vergangenheit" zu erstellen, wie dies der Lausanner "Time Machine"-Begründer Frederic Kaplan formuliert hatte. Nicht nur die technischen Voraussetzungen, sondern auch die Standpunkte von Ethik, Philosophie und die rechtlichen Grundlagen spielten dabei eine große Rolle, betonte Aigner.
Für die Zukunft geht laut dem österreichischen Historiker auch in der Archivforschung kein Weg an der Künstlichen Intelligenz und an Big Data vorbei. "Systeme werden trainiert, alte Schriften zu lesen, zu verstehen, die darin enthaltenen Informationen auch zu verlinken und miteinander in Beziehung zu setzen." Ganze Staatsarchive könnten etwa ihre Pergamente in digital transferieren und für jedermann einsichtig machen. Ebenso sei es denkbar, eines Tages längst abgerissene historische Gebäude auf Knopfdruck durch Simulationen zumindest digital wieder zu errichten.
Ressource für Identität
Zum ICARUS-Jubiläum kamen rund 200 Besucher aus 30 Ländern, darunter auch Experten wie Jussi Nuorteva, Leiter des finnischen Nationalarchivs, das wie die anderen skandinavischen Länder eine Vorreiterrolle im Bereich der Digitalisierung und der offenen Daten einnimmt. Open Data sei nicht nur für die Regierungen, sondern auch für private Einrichtungen eine "unschätzbare Ressource" und schaffe für NGOs ganz neue Möglichkeiten, erklärte Nuorteva dabei. In Finnland gebe es daher längst nur mehr eine einzige Suchplattform ("Finna") für sämtliche Galerien, Museen, Archive und Bibliotheken.
Der irakische katholische Priester P. Michaeel Najeeb berichtete bei der Feier von der 2015 gestarteten Zusammenarbeit für die Rettung christlich-chaldäischer Handschriften vor der Terrormiliz IS. "Hätte der IS all unsere Dokumente zerstört, gäbe es keine Zeugnisse unserer Kultur in der Region mehr. Eine Kultur, die ihrer Vergangenheit beraubt ist, hat keine Zukunft mehr", verdeutlichte der Geistliche die wichtige Funktion der Bewahrung von Identität. ICARUS hatte P. Najeeb u.a. mit Dokumentenscannern, Archivierungsmaterial und Restauratorenworkshops unterstützt.
Quelle: Kathpress