Glettler entlarvt Idyllen rund um "Stille Nacht, Heilige Nacht"
Mit Idyllen und überzogenen Harmonieerwartungen rund um das Fest der Geburt Jesu und das Lied "Stille Nacht, Heilige Nacht" räumt der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler auf. "Entstanden ist der alpenländische Weihnachtshit in einem konträren Umfeld - 1818 war die Bevölkerung des Landes Salzburg völlig verarmt", nahm er im ORF-Radio Bezug auf das heuer begangene 200-Jahr-Jubiläum der weltweit beliebten Komposition von Franz Gruber und Joseph Mohr. In der Woche vor dem vierten Adventsonntag gestaltet Glettler täglich bis einschließlich Samstag, 22. Dezember, jeweils um 6.56 Uhr auf Ö1 die Sendereihe "Gedanken für den Tag". Leitmotiv ist das "soziale und mystische Glaubenslied", ohne das "Weihnachten um vieles ärmer" wäre.
Wenn es im Text heiße, dass "alles schläft", irgendjemand aber "einsam wacht" - meist nicht freiwillig, wie der Bischof anmerkte, erinnere dies an die harten Nächte nach den Franzosenkriegen Anfang des 19. Jahrhunderts. Europa habe sich politisch neu finden müssen, für die Salzburger Bevölkerung sei es eine äußerst schwierige Zeit gewesen.
Nach den Worten Glettlers waren auch die Umstände in Betlehem, von denen das Lied "herzergreifend singt", alles andere als harmonisch. Jesus sei in einer Notunterkunft am Stadtrand zur Welt gekommen, "ausgesetzt und gefährdet". Er teile damit das Schicksal der vielen, für die auch heute "kein Platz" sei, verwies Glettler auf Millionen Vertriebene und Flüchtende, auf seelisch Verwundete und Verängstigte.
Die "fromme Behauptung, dass es erst Weihnachten wird, wenn wir gut zueinander sind", bezeichnete der kunstsinnige Innsbrucker Bischof als "schlichtweg eine Häresie". Gottes Sohn sei vielmehr "in der Nacht der Gewalt und der Feindschaft" auf die Erde gekommen. Glettler wörtlich: "Das Kommen Jesu war nie und nimmer ein religiöser Aufputz für ein bürgerliches Wohlverhalten." Vielmehr habe Gottes Kommen die Nacht geheiligt und "das Un-Heile und Un-Heilige verwandelt".
Wenn in "Stille Nacht" das "traute hochheilige Paar" besungen wird, sei dies für einige "fast ein Kampfbild für den Erhalt von Familie, für andere eine realitätsferne Idealisierung", so der Bischof in der Sendung am Mittwoch. Die Wirklichkeit sehe freilich anders aus: "Ich habe noch keine heile Familie erlebt." Immer wieder gebe es neben großen Momenten familiären Glücks auch Scheitern, Kränkungen und Entfremdung.
Vom "holden Knaben im lockigen Haar" werde berichtet, dass er sich als Erwachsener für eine "neue Familienaufstellung" entschieden habe, wies Glettler hin. Mit Blick auf seine Zuhörer und Weggefährten habe Jesus gesagt: "Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter." Zu dieser Wahlverwandtschaft, der "neuen Familie" Jesu gehörten Leute aus allen sozialen Schichten und Milieus - laut Glettler Wohlhabende und Randexistenzen, Sünder, Tiefgläubige und Zweifler, Erfolgreiche und Gescheiterte.
"Stille Nacht", ein Lied, "das trotz aller Zugriffe der Verkitschung trotzt", besinge die geforderte Nähe zu Jesus und letztlich eine neue Menschheitsfamilie, die auch weit über die Grenzen einer institutionalisierten Religion hinausreiche. "Jenseits aller beschworenen Idyllen sind wir Schwestern und Brüder", betonte Glettler. "Vielleicht gelingt uns zu Weihnachten eine neue Familienaufstellung."
Die "Gedanken für den Tag" sind im Internet unter "7 Tage Ö1" als Podcast abrufbar. (Link: https://oe1.orf.at/player)
Quelle: kathpress