"Liebe junge Menschen, öffnet die Käfigtür und fliegt hinaus!"
Am Dienstag, 2. April, veröffentlichte der Vatikan das nachsynodale Schreiben "Christus vivit", mit dem Papst Franziskus sich nach der letztjährigen "Jugendsynode" nun explizit "an die Jungen Menschen und das ganze Volk Gottes" wendet, wie das Schreiben im Untertitel heißt. Abgefasst ist das Schreiben erklärtermaßen als Brief, d.h. Franziskus wendet sich in vielen Formulierungen und Absätzen direkt und "auf Augenhöhe" an die Jugendlichen. Auffallend ist außerdem, wie sehr Franziskus dem Synoden-Abschlussdokument und auch dem vorsynodalen Schreiben Raum gibt bzw. sich deren Aussagen teils wortwörtlich zu eigen macht.
Strukturiert ist dieser etwa fünfzig Seiten umfassende Brief an die Jugend in neun Kapitel, in denen Franziskus - ausgehend von biblischen Aussagen zum Thema Jugend bzw. junge Menschen - für eine neue Zuwendung der Kirche zu den jungen Menschen ebenso wirbt wie für ein verstärktes Engagement der Jugend in der Kirche. Dabei leuchten - in einer Art "jugendgerechten" Sprache - all jene Themen auf, die Franziskus immer wieder auch an anderer Stelle ein Anliegen waren und sind: das unbedingte Hören vor jedem Antworten auf Fragen, die vielleicht gar nicht gestellt werden; eine wohlwollende Kritik an den zunehmend digitalen Lebenswelten junger Menschen; eine Wertschätzung von Migranten und Menschen auf der Flucht; ein striktes "kein Zurück mehr" in Sachen (sexueller) Missbrauch; aber auch spirituelle Anliegen wie Freundschaft mit Christus, die Wiederentdeckung des Wertes der Familie und einer missionarischen Existenz.
Konkret wird Franziskus vor allem in den letztes drei Kapiteln, wo es um eine neue (Jugend)Pastoral, um ein breites Verständnis von Berufungspastoral und um einen Sinneswandel bei den "professionellen" kirchlichen Kräften im Umgang mit Jugendlichen geht. Im Folgenden dokumentiert der "Info-Dienst" zentrale Passagen des Schreibens, in dem sich Franziskus ausdrücklich "bemüht" hat, "die Vorschläge aufzunehmen, die mir am bedeutsamsten erschienen" - und sich dabei einer teils überraschenden Sprache bedient:
Jugendliche stärken und begleiten
Zunächst skizziert Franziskus, wie Jugend und Jugendlichkeit in der Bibel thematisiert werden. Dabei geht er u.a. auf Kindheitserzählungen Jesu ein und deutet sie durchaus erfrischend insofern, als er die Freiheit positiv beschreibt, die sich Jesus nimmt, wenn er - wie im Lukasevangelium geschildert - bei einer Wallfahrt nach Jerusalem seinen Eltern plötzlich abhanden kommt:
"Dank des Vertrauens seiner Eltern kann sich Jesus frei bewegen und lernt mit allen anderen gemeinsam zu gehen. (30) Diese Aspekte des Lebens Jesu können eine Inspiration für jeden jungen Heranwachsenden bei der Vorbereitung auf seine Mission sein. Das bedeutet, im Verhältnis zum Vater wie auch im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Familie und einer Gemeinschaft zu reifen. Man muss reifen in der Offenheit auf die Erfüllung des Geistes hin und um sich leiten zu lassen, um die von Gott anvertraute Mission, die eigene Berufung, zu vollbringen. Keines von alledem darf in der Jugendpastoral außer Acht gelassen werden, um nicht Projekte zu schaffen, die die Jugendlichen von der Familie und von der Welt abschotten oder sie in eine elitäre Minderheit verwandeln, von jeder Ansteckungsgefahr geschützt. Wir brauchen vielmehr Projekte, die sie stärken, sie begleiten und sie auf die Begegnung mit den anderen, auf den großherzigen Dienst und die Mission ausrichten."
Auch betont Franziskus Jesu Mitgefühl mit den Schwächsten, Armen und Kranken und Jesu "Mut, sich den religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit entgegenzustellen" (31) - um vor diesem Hintergrund die Bitte zu formulieren:
"Bitten wir den Herrn, er möge die Kirche von denen befreien, die sie alt machen, sie auf die Vergangenheit festnageln, bremsen und unbeweglich machen wollen. Bitten wir auch, dass er die Kirche von einer anderen Versuchung befreie: zu glauben, dass sie jung ist, wenn sie auf alles eingeht, was die Welt ihr anbietet; zu glauben, dass sie sich erneuert, wenn sie ihre Botschaft verbirgt und sich den anderen anpasst." (35)
Und umgekehrt formuliert er an die "Alten" in der Kirche: "Wir Mitglieder der Kirche dürfen keine seltsamen Gestalten sein. Alle müssen sich als Geschwister und Nachbarn fühlen können wie die Apostel, die 'Gunst beim ganzen Volk' fanden (Apg 2,47, vgl. 4,21.23; 5,13). Zugleich müssen wir allerdings den Mut haben, anders zu sein, andere Träume zu zeigen, die die Welt nicht geben kann, und Zeugnis zu geben für die Schönheit der Großherzigkeit, des Dienstes, der Reinheit, der Stärke, der Vergebung, der Treue zur eigenen Berufung, des Gebets, des Kampfes für die Gerechtigkeit und für das Gemeinwohl, der Liebe für die Armen und der sozialen Freundschaft." (36)
Gegen starre Strukturen
Anders gesagt: "Eine Kirche in Defensive, die die Demut verliert, das Zuhören aufgibt und die sich nicht infrage stellen lässt, verliert die Jugendlichkeit und verwandelt sich in ein Museum" (41). Auch da wird Franziskus erfrischend direkt, wenn er diese Gefahren konkret benennt:
"Beispielsweise kann eine übertrieben ängstliche und starr strukturierte Kirche ständig kritisch gegenüber allen Äußerungen zur Verteidigung der Frauenrechte eingestellt sein und dauernd die Risiken und möglichen Irrtümer solcher Forderungen aufzeigen. Dagegen kann eine lebendige Kirche so reagieren, dass sie den berechtigten Ansprüchen von Frauen, die größere Gerechtigkeit und Gleichheit verlangen, Aufmerksamkeit schenkt. Sie kann sich an die Vergangenheit erinnern und eine lange Geschichte autoritären Verhaltens seitens der Männer zugeben, Unterwerfung und verschiedene Formen von Sklaverei, Missbrauch und machohafte Gewalt." (42)
Im dritten Kapitel wendet Franziskus dann den Blick auf die heutige Jugend - und er benennt klar die Gefahr, dass "wir Erwachsene" heute vor allem gefährdet seien, "die Schwierigkeiten und Fehler der heutigen Jugend aufzulisten" (66), anstatt ihrer Dynamik, Kraft und ihrem Gestaltungswillen positiv gegenüberzustehen. Doch auch die Schattenseiten benennt Franziskus klar, wenn er - darin dem Synodenpapier folgend - aufzeigt, wo überall junge Menschen zu Opfern werden: "Wir dürfen keine Kirche sein, die angesichts dieser Tragödien ihrer jungen Söhne und Töchter keinen Schmerz empfindet. Wir dürfen uns nie daran gewöhnen, denn wer nicht in der Lage ist zu weinen, ist keine Mutter. Wir wollen weinen, damit auch die Gesellschaft mütterlicher wird, damit sie, statt zu töten, lernt zu gebären, damit sie eine Verheißung des Lebens wird. (...) Das Schlimmste, was wir tun können, ist, das Rezept einer verweltlichten Gesinnung anzuwenden, das darin besteht, junge Menschen mit anderen Nachrichten, mit anderen Ablenkungen, mit Banalitäten zu betäuben." (75)
Missbrauch: "Es gibt kein Zurück mehr"
Zur Sprache bringt der Papst in Folge auch ein übersteigertes Schönheitsideal, den hohen Stellenwert von Körper und Sexualität für junge Menschen - und er macht sich schließlich drei Beschreibungen bzw. Themen zu eigen, die auch bei der Synode ausdrücklich besprochen wurden: "Die digitale Umgebung", sprich: Die hohe Relevanz digitaler Lebenswelten für Jugendliche, "Migranten als Paradigma unserer Zeit" und "Allen Formen von Missbrauch ein Ende setzen" - so die Zwischenüberschriften an dieser Stelle des Dokuments. Zum Thema Migration hält der Papst dabei fest:
"Ich bitte vor allem die Jugendlichen, nicht auf diejenigen hereinzufallen, die versuchen, gegen junge Migranten zu hetzen, indem sie so beschrieben werden, als seien sie gefährlich und als hätten sie nicht die gleiche unveräußerliche Würde wie jeder Mensch." (94)
Aufmerken lassen die Passagen zum Thema Missbrauch. So hält der Papst zunächst prinzipiell fest: "Seit einiger Zeit sind wir nachdrücklich gefordert, den Schrei der Opfer der verschiedenen Arten von Missbrauch durch einige Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien zu hören. Diese Sünden verursachen in ihren Opfern 'ein Leid, das ein Leben lang andauern und durch keine Reue geheilt werden kann. Dieses Phänomen ist in der Gesellschaft verbreitet, es betrifft auch die Kirche und stellt ein ernsthaftes Hindernis für ihre Sendung dar.'" (95) Es bedürfe daher nicht nur eines entschlossenen Vorgehens gegen Missbrauchstäter, sondern auch entschlossener Präventionsmaßnahmen, bekräftigt Franziskus das Synodenpapier. Und er hält fest: "Es gibt kein Zurück mehr." (97)
Die Quelle des Missbrauchs - sei er körperlicher oder geistlicher Art - macht Franziskus in einem verfehlten "Klerikalismus" aus:
"Der Klerikalismus ist eine ständige Versuchung für diejenigen Priester, 'die das empfangene Amt als eine auszuübende Macht [verstehen] und nicht als einen mit Selbstlosigkeit und Großmut anzubietenden Dienst. Jene Haltung führt zu der Auffassung, man gehöre zu einer Gruppe, die alle Antworten besitzt und nicht mehr zuhören und nichts mehr zu lernen braucht.' Der Klerikalismus birgt für gottgeweihte Personen zweifellos die Gefahr, die Achtung vor dem heiligen und unveräußerlichen Wert jedes Menschen und seiner Freiheit zu verlieren." (98)
Anecken dürfte der Papst schließlich mit seiner Ermutigung, Jugendliche mögen doch das ihre dazu beitragen und "gefährdete" Priester ansprechen und an ihre "Verpflichtung gegenüber Gott und seinem Volk" erinnern. Im Wortlaut:
"Gott sei Dank sind die Priester, die in diese schrecklichen Verbrechen verstrickt sind, nicht die Mehrheit. Die meisten leisten einen treuen und großherzigen Dienst. Ich bitte die Jugendlichen, sich von dieser Mehrheit anregen zu lassen. Wenn immer du einen Priester siehst, der gefährdet ist, weil er die Freude an seinem Dienst verloren hat, weil er nach affektiver Kompensation sucht oder vom Kurs abkommt, dann traut euch, ihn an seine Verpflichtung gegenüber Gott und seinem Volk zu erinnern, ihm das Evangelium zu verkünden und ihn zu ermutigen, auf dem rechten Weg zu bleiben. Auf diese Weise leistet ihr unschätzbare Hilfe in dem ganz fundamentalen Bereich der Prävention, die verhindert, dass sich solche Gräueltaten wiederholen. Diese schwarze Wolke wird auch für junge Menschen, die Jesus Christus und seine Kirche lieben, zur Herausforderung, denn sie können viel zur Heilung dieser Wunde beitragen, wenn sie dafür ihre Fähigkeit zur Erneuerung, zur Beschwerde, zur Forderung nach Zusammenhalt und Zeugnis, zum erneuten Träumen und zum Neuanfang einsetzen." (100)
"Öffnet die Käfigtür und fliegt hinaus!"
Im fünften Kapitel wendet sich Franziskus wieder sehr direkt und appellativ an die Jugend, wenn er sie aufruft, das Leben in seiner ganzen Weltlichkeit, die wiederum von Gott geborgene und gehaltene Weltlichkeit ist, auszukosten und nicht der Versuchung einer Weltflucht zu erliegen. Auch scheut er dabei in gewohnter Manier nicht vor überraschenden, ungewohnten Bildern zurück:
"Liebe junge Menschen, verzichtet nicht auf das Beste an eurer Jugend, beobachtet das Leben nicht von einem Balkon aus. Verwechselt das Glück nicht mit einem Sofa und verbringt nicht euer ganzes Leben vor einem Bildschirm. Gebt auch nicht das traurige Spektakel eines verlassenen Fahrzeugs. Seid nicht wie abgestellte Autos, lasst lieber eure Träume aufblühen und trefft Entscheidungen. Setzt etwas aufs Spiel, auch wenn ihr Fehler machen werdet. Seid nicht bloße Überlebende mit einer narkotisierten Seele und schaut nicht die Welt an, als ob ihr Touristen wärt. Lasst von euch hören! Werft die Ängste, die euch lähmen, über Bord, damit ihr euch nicht in jugendliche Mumien verwandelt. Lebt! Widmet euch dem Besten des Lebens! Öffnet die Käfigtür und fliegt hinaus! Geht bitte nicht schon vorzeitig in den Ruhestand." (143)
Und an anderer Stelle ähnlich: "Ich bitte euch, lasst nicht zu, dass andere die Hauptdarsteller der Veränderung sind! Ihr seid die, denen die Zukunft gehört! Durch euch tritt die Zukunft in die Welt ein. Ich bitte euch auch, die Hauptdarsteller dieser Veränderung zu sein. Arbeitet weiter daran, die Apathie zu überwinden und eine christliche Antwort auf die sozialen und politischen Unruhen zu geben, die sich in mehreren Teilen der Welt zeigen. Ich bitte euch, Konstrukteure der Welt zu sein und euch an die Arbeit für eine bessere Welt zu machen. Liebe junge Freunde, bitte schaut euch das Leben nicht 'vom Balkon aus' an!" (174)
Damit hat Franziskus auch die Brücke geschlagen zu eines seiner Leib-und-Magen-Themen: Der Mission bzw. der missionarischen Existenz. Denn schließlich mündet das Engagement für die Welt in einem Engagement für Christus bzw. fällt beides miteinander zusammen. Beides müsse dabei Hand in Hand gehen: Die ganz praktische Zeugnisgabe im Tun des Gerechten - und das Reden vom Evangelium.
"Das Evangelium ist für alle und nicht für einige. Es ist nicht nur für die, die uns näher, aufnahmefähiger, empfänglicher erscheinen. Es ist für alle. Fürchtet euch nicht, hinzugehen und Christus in jedes Milieu hineinzutragen, bis in die existenziellen Randgebiete, auch zu denen, die am fernsten, am gleichgültigsten erscheinen. (...) Und er lädt uns ein, ohne Angst mit der missionarischen Verkündigung überall hinzugehen, egal, wo wir uns befinden und mit wem wir zusammen sind: im Wohnviertel, beim Studium, beim Sport, wenn wir mit Freunden ausgehen, bei ehrenamtlichen Tätigkeiten oder bei der Arbeit, immer ist es gut und angebracht, die Freude des Evangeliums zu teilen." (177)
Es gelte, die Schönheit im Alltäglichen, im Familienleben, in der Arbeit zu entdecken. Und auch an dieser Stelle scheut Franziskus nicht vor ungewöhnlichen Bildern zurück, wenn er schreibt: "Es liegt eine außerordentliche Schönheit in der Gemeinschaft der um den Tisch versammelten Familie, die großzügig ihr Brot teilt, auch wenn die Tafel sehr arm ist. Es liegt eine Schönheit in der unfrisierten und älteren Ehefrau, die über ihre Kräfte und ihre Gesundheit hinaus fortfährt, sich um ihren erkrankten Ehemann zu kümmern. Auch wenn die Flitterwochen lange zurückliegen, liegt eine Schönheit in der Treue der Ehepaare, die sich im Herbst des Lebens lieben, in diesen alten Menschen, die Hand in Hand gehen."
Für eine erneuerte Jugendpastoral
Das Dokument läuft schließlich auf zwei konkrete Anliegen hinaus, die Franziskus an die Kirche selbst heranträgt: Zum einen die Erfordernis einer erneuerte Jugendpastoral; zum anderen eine erneuerte, weil begrifflich weiter ausholende Berufungspastoral. In der Jugendpastoral brauche es "neue Stile und neue Strategien" (204), schließlich fühle sich "die Mehrheit der jungen Menschen kaum von pastoralen Plänen angezogen", so der Papst:
"Die Jugendpastoral muss flexibler sein und die jungen Menschen zu Events und Veranstaltungen einladen, wo sie dann nicht nur eine Unterweisung erhalten, sondern ihnen ebenso die Gelegenheit geben wird, sich über das Leben auszutauschen, zu feiern, zu singen, konkrete Zeugnisse zu hören und als Gemeinschaft die Begegnung mit dem lebendigen Gott zu erfahren." (204)
Für eine erneuerte Jugendpastoral sieht der Papst schließlich zwei große Handlungslinien: Die "Suche" und das "Wachstum". Die Jugend suche aktiv nach Wegen, sich in der Welt einzubringen und auch die eigene Berufung zu finden - diese Suchbewegungen gelte es zu unterstützen und den Jugendlichen Freiräume auch in der Kirche einzuräumen: "Man muss die jungen Menschen nur ermutigen und ihnen die Freiheit geben, damit sie sich für die Mission in den Bereichen, wo die Jugendlichen zu finden sind, begeistern. Die erste Verkündigung kann eine tiefe Glaubenserfahrung bei einem intensiven Einkehrtag hervorrufen, bei einem Gespräch in einem Lokal, in der Pause an der Universität oder auf sonst einem der unergründlichen Wege Gottes." (210)
Ein Reifen und Wachsen fördere eine zeitgemäße Jugendpastoral jedoch nur, wenn sie über klassisch katechetische Formen der Unterweisung hinausgehe: "Seien wir nicht so darauf versessen, eine Menge an Lehrinhalten weiterzugeben, und versuchen wir vor allem, die großen Erfahrungen, die das christliche Leben tragen, hervorzurufen und zu festigen." (212) Die Gefahr einer "Indoktrinierung" (214) müsse in der Jugendpastoral unbedingt vermieden werden - stattdessen brauche es Räume, die man den Jugendlichen zur Verfügung stellen muss; Räume der Zusammenkunft, der gemeinsamen Freizeitgestaltung, des Sports etc.
In dem Kontext mahnt Franziskus auch die katholischen Bildungseinrichtungen und Schulen zu größerer Offenheit gegenüber anderen Disziplinen und Angeboten und zu verstärkter Kooperation mit weltlichen Bildungseinrichtungen - eine Forderung, die wohl an der Realität zumindest im deutschsprachigen Raum weitgehend vorbeigeht. So verlangt der Papst eine "Selbstkritik" (221) der schulischen katholischen Bildungseinrichtungen, insofern es "manche katholische Schulen" gebe, "die scheinbar nur daraufhin organisiert sind, den Bestand zu wahren" (221) und die aus Angst vor jeder Form der Veränderung zu einem "Bunker" geworden seien.
Dagegen unterstreicht der Papst sehr "weltliche" formen, in denen Jugendliche vom Glauben Zeugnis ablegen und Berufung finden und leben können: Etwa den künstlerischen Bereich, den Sport und den Einsatz für die Schöpfung. Dies alles verstehe er unter einer "volksnahen Jugendpastoral" (230): "Sie besteht in einer breiter und flexibler angelegten Pastoral, die an den verschiedenen Orten, wo junge Menschen konkret anzutreffen sind, jene natürlichen Führungsqualitäten und Charismen fördert, die der Heilige Geist unter ihnen schon hervorgerufen hat." (230)
Erneuerung der Berufungspastoral
Schließlich ruft Franziskus im achten Kapitel zu einer Erneuerung der Berufungspastoral auf: Berufung versteht der Papst dabei zunächst nicht im engen Sinne einer Berufung zum Priestertum oder Ordensleben, sondern denkbar weit - als Berufung zu einem Leben in Fülle, zu einem Leben für andere, wie es etwa im sozialen Engagement aufscheint:
"Ich möchte mich nun der Berufung, verstanden im Sinn des Rufes zum missionarischen Dienst an den anderen, widmen. Wir sind vom Herrn gerufen, an seinem Schöpfungswerk teilzunehmen, indem wir mit den Fähigkeiten, die wir erhalten haben, unseren Beitrag zum Gemeinwohl leisten." (253)
Insofern könne man festhalten: "Jede Pastoral ist Berufungspastoral, jede Ausbildung gilt der Berufung und jede Spiritualität hat mit Berufung zu tun" (254). Im Grunde bedeute Berufung schließlich die Erkenntnis dessen, "wofür ich gemacht bin, wozu ich auf dieser Welt bin, welcher der Plan des Herrn für mein Leben ist" (256). Besonder unterstreicht Franziskus dabei das "Für-die-anderen-da-Sein" als Form einer individuellen Berufung - sei es im Dasein für den anderen im familiären Alltag oder eben im sozialen Engagement und in der Arbeit. Schließlich ist jeder Mensch qua Taufe berufen:
"Wer nicht zur Ehe oder zum geweihten Leben gerufen ist, muss immer in Erinnerung behalten, dass die erste und wichtigste Berufung die in der Taufe empfangene Berufung ist. Die Alleinstehenden, auch wenn sie diese Lebensform nicht bewusst gewählt haben, können ein besonderes Zeugnis dieser Berufung auf ihrem Weg des persönlichen Wachstums geben." (267)
Erst dann, d.h. erst ausgehend von dieser allgemeine Form der Berufung sei es statthaft, die speziellen Formen der Berufung ins Auge zu nehmen - erst dann sei es geboten, "die Netze auszuwerfen" und jungen Menschen die Frage zu stellen, ob das Priesteramt oder das Ordensleben für sie eine Option ist, so der Papst:
"Wenn man sich für eine Berufung entscheiden muss, dann darf man nicht die Möglichkeit ausschließen, sich Gott im Priestertum zu weihen, im Ordensleben oder in anderen Formen des geweihten Lebens. Warum sollte man es ausschließen? Sei gewiss, wenn du einen Ruf Gottes erkennst und ihm folgst, dann wird es das sein, was dein Leben erfüllt." (276)
Um nun dieses breite Verständnis von Berufung kirchlich zu konkretisieren, brauche es nicht nur die Sensibilität der Jugendlichen für die Frage nach ihrer je eigenen Berufung, sondern auch kompetente Begleiter. Auch hier zeigt sich Franziskus wieder als "guter Hirte" im besten Wortsinn, wenn er die Jugendlichen gleichsam "an die Hand nimmt" und mit ihnen jene Fragestellungen durchgeht, die seines Erachtens nach geeignet sind, um der eigenen Berufung auf die Spur zu kommen:
"Wenn es darum geht, die eigene Berufung zu erkennen, ist es notwendig, sich verschiedene Fragen zu stellen. Man darf dabei nicht mit der Frage anfangen, wo man am meisten verdienen würde, oder wo man mehr Ruhm und soziales Ansehen erreichen könnte. Auch darf man nicht mit der Frage beginnen, welche Aufgaben einem am meisten Freude machen würden. Um sich nicht zu täuschen, muss man die Perspektive ändern und sich fragen: Kenne ich mich selbst über den Schein und meine Empfindungen hinaus? Weiß ich, was meinem Herzen Freude bereitet oder was es traurig stimmt? Welches sind meine Stärken und wo sind meine Schwachpunkte? Es folgen unmittelbar weitere Fragen: Wie kann ich besser dienen und der Welt und der Kirche nützlicher sein? Was ist mein Platz auf dieser Erde? Was hätte ich der Gesellschaft zu bieten? Daraus ergeben sich weitere sehr realistische Fragen: Habe ich die notwendigen Fähigkeiten, um diesen Dienst zu leisten? Oder könnte ich sie mir aneignen und entwickeln?" (285)
Quelle: kathpress Infodienst