Historiker: Erster Weltkrieg leerte Kirchen, Zweiter füllte sie
Krisen, Katastrophen oder Kriege lösen nicht per se einen Zustrom zum religiösen Glauben und zu den Kirchen aus, vielmehr ist auch eine ganz gegenteilige Entwicklung denkbar: "Not lehrt nicht nur beten, sondern kann auch fluchen lehren. Der Erste Weltkrieg hat die Kirchen eher geleert, während der Zweite Weltkrieg die Kirchen eher gefüllt hat", so der Befund des Wiener Kirchenhistorikers Rupert Klieber der Sendung "Praxis Spezial" vom 29. April, die im Rahmen des noch bis 10. Mai dauernden Ö1-Schwerpunktes "1945 und die Folgen - Anfänge, Widersprüche, Kontinuitäten" ausgestrahlt wurde.
Die Gesamtkonstellation entscheidet nach den Worten Kliebers über das Zusammenspiel von Notsituationen und Religiosität. Maßgeblich seien Faktoren wie etwa, "ob da auch entsprechende Persönlichkeiten vorhanden sind, die etwas prägen können, die Weichen stellen und etwas auffangen können - und auch, wie die Situation eingebettet ist in andere soziologische und ideologische Entwicklungen".
Über längere Zeiträume gesehen, beschrieb Klieber den Zustrom zur katholischen Kirche "in Wellenbewegungen": Ein deutliches Tief habe die Kirche in der Zeit der ausgehenden Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt, ehe es dann aufwärts gegangen sei, als die katholische Basis besser organisiert und mobilisiert werden konnte. In der Zwischenkriegszeit habe dann wieder ein "Durchhänger" mit pastoralen Einbrüchen eingesetzt, auch politisch bedingt durch scharfe Auseinandersetzungen um den politischen Katholizismus. Im Nationalsozialismus von 1938 bis 1945 habe sich dieser Trend noch verstärkt, da die Machthaber auch gezielt auf den Kirchenaustritt breiter Bevölkerungsteile hinarbeiteten.
Goldene Ära
Ganz anders dann aber die Situation nach Kriegsende 1945: Der Wiener Kirchenhistoriker bezeichnete diese Phase als eine regelrechte "Hochblüte der Kirchlichkeit", die bis in die 1970er Jahre reichte - als erst die bis heute anhaltenden Einbrüche bei Kirchenbesuchs- und -mitgliedszahlen einsetzten. Kennzeichen dieser "goldenen Ära" der katholischen Kirchlichkeit in Österreich seien vollbesetzte Kirchenbänke, religiöse Massenveranstaltungen bei Prozessionen, Erntedankfesten und Primizfeiern gewesen.
Klieber nannte in der Ö1-Sendung auch konkrete Zahlen: Zwischen 1945 und 1965 seien in sechs der neun Diözesen mehr als 50 Prozent der Katholiken regelmäßig zu den Gottesdiensten gegangen. Selbst in Wien - dem säkularsten Bundesland - seien 65 Prozent aller Eheschließungen und weit über 90 Prozent der Einsegnungen kirchlich erfolgt. "Das sind Frequenzen, die man vorher und nachher nie erlebt hat und von denen wir heute nur mehr träumen können", wie der Wissenschaftler unterstrich.
Strategie der Versöhnung
Dazu beigetragen habe einerseits die Rückkehr des deutschnationalen Mittelstands in kirchliche Einbindung, befördert durch eine "regelrechte Rückholaktion für die damals Ausgetretenen". Nach 1945 hätte die Kirche laut Klieber noch einen "großen Optimismus, die gesamte Bevölkerung kirchlich erfassen und motivieren zu können" gehabt. Selbst Kreise, die zuvor als kirchenfern galten, habe man integrieren wollen, oft auch unter dem Stichtwort einer "Strategie der Versöhnung", die konkret eine "Wiederversöhnung der Gesellschaft" unter kirchlichen Vorzeichen gewesen sei. So sei ein großer Teil der rund 300.000 im Nationalsozialismus Ausgetretenen wieder zurückgekommen.
Freilich: Damit verbunden war auch das Versäumnis, Schuld unaufgearbeitet zu lassen. Bewusst habe die Kirche nicht auf die Opfergruppen des Nationalsozialismus gesetzt, sondern auf "die vielen Heimkehrer aus dem Krieg, die vielfach traumatisiert waren, denen man in den Kameradschaftsbünden auch kirchlich eine Heimat geboten hat", so Klieber. Als entscheidend wertete der Kirchenhistoriker, dass diese Vereinigungen auch Formen des kirchlichen Ausdrucks und der Seelsorge erhielten wie etwa Kriegerdenkmäler, Gottesdienste für die Heimkehrer und Gefallene wie auch Präsenz bei verschiedenen Anlässen.
Ungewollte Entwicklungshilfe
Insgesamt sei die römisch-katholische Kirche in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Organisation kaum beschädigt gewesen und habe schnell auf alte Strukturen zurückgreifen können, erklärte Klieber das schnelle "Hochfahren" nach dem Krieg. Dazu sei gekommen, dass ihr der Nationalsozialismus ungewollt etliche Konfliktstoffe aus dem Weg geräumt habe, wie etwa durch die Einführung der Zivilehe: "Bis 1938 war es ein Dauerstreitthema in der Gesellschaft, dass sich Katholiken nicht scheiden lassen und nicht mehr legal eine weitere Ehe eingehen konnten. Das hat vorher viel böses Blut und pastorale Hindernisse aufgebaut, die nach 1945 ausgeräumt waren", so Klieber.
Auch die erstmalige finanzielle Unabhängigkeit sei von Vorteil gewesen, durch den im Nationalsozialismus eingeführten Kirchenbeitrag: "Das Kalkül der NS-Zeit, es würde dadurch zu Massenaustritten aus der Kirche kommen, ist nicht aufgegangen. Vielmehr hat sich der Kirchenbeitrag nach 1945 sehr hilfreich erwiesen."
Folgewirkungen bis heute
So sei es gekommen, dass Österreichs Kirche nach 1945 auch ihren Teil leistete, um ein kleinbürgerliches Lebensideal - wenn auch auf provinzielle Weise - entstehen zu lassen und eine katholisch-österreichische Identität zu beschwören. Zwar habe man auf dieses Österreich-Bewusstsein schon im Ständestaat von 1933 bis 1938 gesetzt, erst nach 1945 habe dies jedoch gegriffen. Ausdruck dafür sei das Ideal einer christlichen Familie, der traditionell geprägten Heimat, jedoch auch der Dorfgemeinschaft und der Pfarrgemeinschaft, die allesamt, so Klieber, "strukturiert ein traditionelles Leben anbieten".
Dabei seien jedoch viele der neuen Konzepte und Organisationsformen, die nun innerhalb der Katholischen Aktion und vor allem im Jugendbereich entstanden, gar nicht "bieder-traditionell" gewesen. Klieber erwähnte hier die Tätigkeit von "sehr engagierten Jugendkaplänen, die für ihren Bereich sehr fortschrittlich waren und ein Alternativmodell von Kirchlichkeit anboten, das durchaus auf Kritik konservativer Kreise stieß". Die damalige Begeisterung, welche zeitgenössische Berichte spüren lassen, habe noch lange angehalten und tue dies teils bis heute: "In vielen Pfarren, auch in den Städten, sind die tragenden Schichten häufig diejenigen, die damals vor 50, 60 oder sogar 70 Jahren in diesen Jugendgruppen aktiv waren", so der Wiener Kirchenhistoriker.
Quelle: kathpress