Kirche der Nachkriegszeit: Versöhnung um Preis des Wegschauens
Wie ist das Verhalten der Katholischen Kirche vor 75 Jahren - nach Ende des Krieges und der NS-Diktatur - aus heutiger Sicht zu sehen? Besonders was den Umgang mit den früheren hunderttausenden NSDAP-Mitgliedern betrifft, kommt die Journalistin und Kirchenhistorikerin Eva Maria Kaiser zu einem zwiespältigen Urteil: Einerseits trug die Kirche mit ihrem vorbehaltslosen Zugehen auf die "Ehemaligen" - im Einklang auch mit den politischen Parteien - maßgeblich zur Versöhnung in der Gesellschaft bei. Sie konnte dies auch "aus der Position des moralischen Siegers" tun, legte Kaiser in der Ö1-Sendung "Praxis Spezial" am 29. April dar. Einen "schalen Nachgeschmack" gebe es dennoch: Erst Jahrzehnte später seien die Opfer des Nationalsozialismus gewürdigt worden - auch jene aus den eigenen Reihen.
Als Hintergrund müsse man sich das Verhalten der Kirche zuvor im Nationalsozialismus vergegenwärtigen, erklärte die Autorin des Buches "Hitlers Jünger und Gottes Hirten" (2017) vorweg. 1938 sei der Versuch der Bischöfe gescheitert, einen "Modus vivendi" mit dem Naziregime zu finden, unmittelbar gefolgt von intensiver Verfolgung: "Über 700 Priester kamen ins Gefängnis und 110 ins KZ, was 42 nicht überlebt haben, weil sie hingerichtet wurden", erinnerte Kaiser. Auch wenn man den damaligen Bischöfen heute vorwerfe, sie hätten zu wenig gegen Hitler unternommen, konnten sie laut der Historikerin 1945 dennoch aus dem Bewusstsein agieren, die NS-Verfolgung als Organisation gut überstanden zu haben und "moralischer Sieger" zu sein.
Aus diesem Grund sei die Kirche damals nicht nur ein glaubhafter Ansprechpartner für die Alliierten und politischen Parteien gewesen und habe mitdiskutiert, wie Österreichs Nachkriegsordnung aussehen könnte, erklärte die ORF-Journalistin und Historikerin: Sie habe vielmehr auch gesellschaftspolitisch mitgemischt und sich für ehemalige Nationalsozialisten eingesetzt - ab 1950 auch für solche, die Kriegsverbrecher waren. An ihre ursprüngliche Maxime, die ehemaligen Mitläufer der NSDAP gelte es "mit Milde und Gnade" zu behandeln und nur die Rädelsführer zu bestrafen, hätten sich die Bischöfe noch in den ersten Nachkriegsjahren gehalten, sie dann aber zusehends "vergessen".
Dieser Einsatz sei einerseits als christliche Nächstenliebe in Verbindung mit dieser moralischen Position zu verstehen, zugleich jedoch auch als Angstreaktion, unterstrich Kaiser: Man habe unbedingt verhindern wollen, dass die Kommunisten die "Ehemaligen" für sich gewinnen könnten, wenn diese vernachlässigt würden. Darauf deuteten Berichte von Seelsorgern der alliierten Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten in Salzburg und Kärnten, in denen von einem "weltanschaulichem Vakuum" und von "desillusionierten und deprimierten" Menschen die Rede sei, und auch: "wenn wir uns nicht um sie kümmern, haben die Kommunisten viel bessere Chancen, dort hineinzustoßen und sie auf ihre Seite zu ziehen", zitierte Kaiser aus den Briefen der hier tätigen Priester an die Bischöfe.
Der politische Erzbischof
Dabei sei die Kirche jedoch schon damals "angepatzt" gewesen: Ins Gewicht fiel dabei der Aufruf der Bischofskonferenz vom März 1938, die Bevölkerung möge für den "Anschluss" an das Deutsche Reich stimmen, sowie ganz besonders der mit "Heil Hitler" unterschriebene Begleitbrief von Kardinal Theodor Innitzer. Nach Kriegsende sei dies dem bereits im fortgeschrittenen Alter befindlichen Kardinal sowohl in Rom als auch gesellschaftspolitisch als Makel nachgehangen, weshalb er sich nach 1945 diesbezüglich kaum mehr zu Wort meldete. Wohl tat dies aber der Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher, der in dieser Zeit zur führenden politischen Figur in Österreichs Kirche avancierte.
Rohracher habe nie mit den Nazis geliebäugelt, sondern sei bei den NS-Behörden als kritisch verrufen gewesen, sagte Kaiser. Nach 1945 sei er zum Adressat tausender Bitt- und Interventionsschreiben geworden, zunehmend auch von nationalsozialistisch Belasteten, den sogenannten "Ehemaligen" - wegen seiner vorzüglichen Kontakte zu den US-amerikanischen Besatzern, jedoch auch, da er offenbar gerne intervenierte: "Auch Zeitgenossen haben schon gemeint, er macht eigentlich für ehemalige Nationalsozialisten zu viel", berichtete Kaiser über ihre Rechercheergebnisse.
Besonders drastisch sei der Fall von Sigbert Ramsauer, der als NS-Arzt im KZ Loiblpass grausame medizinische Experimente an Menschen vornahm und die Opfer später mit Benzininjektionen ermordete, wobei später das Gericht seinen Versuchen, dies als Euthanasie darzustellen, nicht glaubte und ihn zu lebenslanger Haft verurteilte. Nachdem es der Gurker Bischof Josef Köstner auf Anfrage von Ramsauers Familie ablehnte, sich für ihn einzusetzen, versuchte man es ab 1950 bei Rohracher. Tatsächlich intervenierte der Salzburger Erzbischof daraufhin bei den Briten, und Ramsauer wurde 1954 entlassen. Nicht wegen Rohracher, betonte Kaiser: Eher hätten dafür Politiker den Ausschlag gegeben und auch die britische Euthanasie-Bewegung, die sich ebenfalls für den KZ-Arzt einspannen ließ.
Zum Eklat kam es, als Rohracher zur Jahreswende 1952/53 in einem Brief an Bundespräsident Theodor Körner um Amnestie für die letzten 130 noch inhaftierten NS-Kriegsverbrecher bat. Die gesamte Bundesregierung distanzierte sich damals öffentlich und bekundete ihre Ablehnung. Eva Maria Kaiser zufolge spreche allerdings einiges dafür, "dass Rohracher diesen Text nicht selbst verfasst hat, sondern seine Unterschrift unter die Worte eines umtriebigen Nationalratsabgeordneten des Verbands der Unabhängigen (VdU) setzte, der selbst ein NS-Belasteter war".
Verabsäumtes Schuldbekenntnis
Aus heutiger Sicht fragwürdig ist laut der Historikerin jedenfalls die Tatsache, dass die österreichischen Bischöfe in ihren Hirtenbriefen nach 1945 in Rückblicken auf die Zeit davor das Wort Schuld "nicht einmal in den Mund" genommen und im Gegensatz zu ihren Amtskollegen in Deutschland "voll in die Opferrolle hineingefunden" hätten. Sie hätten damit "die Opferthese, die die provisorische Staatsregierung ausgegeben hat, voll unterstützt". Dabei könnte die Kirche laut Kaiser eigentlich froh sein, dass Priestern die NSDAP-Mitgliedschaft verboten war, sei doch wohl dadurch die Zahl der belasteten Klerikern kleiner geblieben.
Jedoch auch der Umgang mit den Geistlichen, die sich gegen das NS-Regime gestellt, dafür ins KZ gekommen, dort gefoltert und nach der Befreiung 1945 in ihre Diözesen zurückgekehrt waren, bedürfe noch weiterer Aufarbeitung: "Man muss ich vorstellen, dass viele dieser KZ-Priester mit körperlichen oder seelischen Schäden zurückgekommen sind und nicht voll einsatzfähig waren. Man hat sie in kleine Pfarren abgeschoben, wollte aber auch gar nicht wissen, wie es ihnen im KZ gegangen ist." Berührend sei ein Dokument aus den 1950er-Jahren, in dem ein KZ-Priester schreibt: "Wir orten eine Art Geschichtsfälschung, was den Umgang mit uns betrifft. Wir werden dargestellt als Opfer unserer Dummheit und unseres Übereifer." Kaisers Kommentar: "Auf Deutsch heißt das: Hättet ihr euer Maul gehalten, wärt ihr nichts ins KZ gekommen."
Erst Jahrzehnte später habe die katholische Amtskirche den "schalen Nachgeschmack" ihrer damaligen theologischen und gesellschaftspolitischen Absichten gemildert durch die Würdigungen der NS-Opfer auch in den eigenen Reihen, so die ORF-Journalistin. Das Geschehen sehe sie als eine Bestätigung dafür, dass eine Versöhnung ohne Reue und Entschuldigung immer "auf dem Rücken der Opfer" stattfinde.
Eva Maria Kaisers Ende 2017 erschienenes Buch "Hitlers Jünger und Gottes Hirten" ist eine komprimierte Version ihrer an der Universität Wien eingereichten Doktorarbeit "Ausgetretene - Belastete - Brückenbauer. Die katholischen Bischöfe Österreichs und ihr Einsatz für ehemalige Nationalsozialisten 1945-1955", für welche die Journalistin in allen österreichischen Diözesanarchiven recherchiert hatte. Die wissenschaftliche Arbeit erhielt auch eine kirchliche Auszeichnung - und zwar vom Erzbischof-Rohracher-Studienfonds der Erzdiözese Salzburg.
Quelle: kathpress