"Eine Utopie anderer Zeiten": Enzyklika "Fratelli tutti" im Wortlaut
Der Vatikan hat die neue Sozialenzyklika "Fratelli tutti - Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft" von Papst Franziskus veröffentlicht. Das dritte große Lehrschreiben des Papstes ist nach seinen Anfangsworten dem Ordensgründer Franz von Assisi (1181/82-1226) und dessen Offenheit gegenüber allen Menschen verpflichtet. Kathpress dokumentiert im Folgenden ausgewählte zentrale Passagen des Rundschreibens:
Einleitung
"Fratelli tutti" schrieb der heilige Franz von Assisi und wandte sich damit an alle Brüder und Schwestern, um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen. (...) Dieser Heilige der geschwisterlichen Liebe, der Einfachheit und Fröhlichkeit, der mich zur Abfassung der Enzyklika Laudato si' anregte, motiviert mich abermals, diese neue Enzyklika der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu widmen. (1 und 2)
Wenn mir bei der Abfassung von Laudato si' eine Quelle der Inspiration durch meinen Bruder, den orthodoxen Patriarchen Bartholomaios, zuteil wurde, der sich nachdrücklich für die Sorge um die Schöpfung eingesetzt hat, so habe ich mich in diesem Fall besonders vom Großimam Ahmad Al-Tayyeb anregen lassen, dem ich in Abu Dhabi begegnet bin. (5)
Ich lege diese Sozialenzyklika als demütigen Beitrag zum Nachdenken vor. Angesichts gewisser gegenwärtiger Praktiken, andere zu beseitigen oder zu übergehen, sind wir in der Lage, darauf mit einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu antworten, der sich nicht auf Worte beschränkt. Auch wenn ich sie ausgehend von meinen christlichen Überzeugungen, die mich beseelen und nähren, schrieb, habe ich mich darin bemüht, dass diese Überlegungen für den Dialog mit allen Menschen guten Willens offen sind. (6)
Als ich dieses Schreiben verfasste, brach unerwartet die Pandemie Covid-19 aus, die unsere falschen Sicherheiten offenlegte. Über die verschiedenen Antworten hinaus, die die verschiedenen Länder gegeben haben, kam klar die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein. (...) Wenn einer meint, dass es nur um ein besseres Funktionieren dessen geht, was wir schon gemacht haben, oder dass die einzige Botschaft darin besteht, die bereits vorhandenen Systeme und Regeln zu verbessern, dann ist er auf dem Holzweg. (7)
Ich habe den großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken. (8)
1. Die Schatten einer abgeschotteten Welt
Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde. (...) Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. (10 und 11)
Das Gute, ebenso wie die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität erlangt man nicht ein für alle Male; sie müssen jeden Tag neu errungen werden. (11)
Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl werden von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert, um ein einziges kulturelles Modell durchzusetzen. Eine solche Kultur eint die Welt, trennt aber die Menschen und die Nationen, denn die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern. (12)
Man nimmt das Vordringen einer Art von "Dekonstruktivismus" in der Kultur wahr, bei dem die menschliche Freiheit vorgibt, alles von Neuem aufzubauen. Aufrecht bleibt nur das Bedürfnis, grenzenlos zu konsumieren, und das Hervorkehren vieler Formen eines inhaltslosen Individualismus. (13)
Die beste Methode, zu herrschen und uneingeschränkt voranzuschreiten, besteht darin, Hoffnungslosigkeit auszusäen und ständiges Misstrauen zu wecken, selbst wenn sie sich mit der Verteidigung einiger Werte tarnt. Heute verwendet man in vielen Ländern den politischen Mechanismus des Aufstachelns, Verhärtens und Polarisierens. (...) Die Politik ist daher nicht mehr eine gesunde Diskussion über langfristige Vorhaben für die Entwicklung aller und zum Gemeinwohl, sondern bietet nur noch flüchtige Rezepte der Vermarktung, die in der Zerstörung des anderen ihr wirkungsvollstes Mittel finden. (15)
Ein Plan mit großen Zielen für die Entwicklung der Menschheit klingt heute wie eine Verrücktheit. (...) Oft werden die Stimmen, die sich zur Verteidigung der Umwelt erheben, zum Schweigen gebracht oder der Lächerlichkeit preisgegeben und andererseits Partikularinteressen mit dem Mantel der Vernünftigkeit umhüllt. (16 und 17)
Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen. Im Grunde werden die Menschen "nicht mehr als ein vorrangiger zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben, wenn sie - wie die Ungeborenen - "noch nicht nützlich sind" oder - wie die Alten - "nicht mehr nützlich sind". Wir sind unsensibel geworden gegenüber jeder Form von Verschwendung, angefangen bei jener der Nahrungsmittel, die zu den verwerflichsten gehört". (18)
Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich als wirksam für das Wachstum, aber nicht gleicherweise für die Gesamtentwicklung des Menschen erweisen. Der Reichtum wächst, aber auf ungleiche Weise, und so "entstehen neue Formen der Armut". (21)
Von Neuem erscheint "die Versuchung, eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, Mauern im Herzen, Mauern auf der Erde, um diese Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen zu verhindern. Und wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. (27)
In der gegenwärtigen Welt nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu der einen Menschheit ab, während der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie anderer Zeiten erscheint. (30)
Eine globale Tragödie wie die COVID-19-Pandemie hat für eine gewisse Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. (32)
Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen. Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr "die Anderen", sondern nur ein "Wir" gibt. Dass es nicht das x-te schwerwiegende Ereignis der Geschichte gewesen ist, aus dem wir nicht zu lernen vermocht haben. (35)
Wenn es uns nicht gelingt, diese gemeinsame Leidenschaft für eine zusammenstehende und solidarische Gemeinschaft wiederzuerlangen, der man Zeit, Einsatz und Güter widmet, wird die weltweite Illusion, die uns täuscht, verheerend zusammenbrechen und viele dem Überdruss und der Leere überlassen. (36)
Sowohl von einigen populistischen politischen Regimen als auch von liberalen wirtschaftlichen Standpunkten vertritt man die Ansicht, dass man die Ankunft von Migranten um jeden Preis vermeiden müsse. (...) Obendrein lösen in einigen Ankunftsländern Migrationsphänomene Alarm und Ängste aus, die oft für politische Zwecke angeheizt und missbraucht werden. (...) Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität und diese Haltungen teilen, indem sie zuweilen bestimmte politische Präferenzen über ihre tiefen Glaubensüberzeugungen stellen. Die unveräußerliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe. (38 und 39)
Ich kann nachvollziehen, dass manche gegenüber der Migranten Zweifel hegen oder Furcht verspüren. Ich verstehe das als Teil des natürlichen Instinkts der Selbstverteidigung. Es ist jedoch auch wahr, dass eine Person und ein Volk nur dann fruchtbar sind, wenn sie es verstehen, die Öffnung gegenüber den anderen in sich selbst schöpferisch zu integrieren. (41)
Die digitalen Beziehungen, die von der Mühe entbinden, eine Freundschaft, eine stabile Gegenseitigkeit und auch ein mit der Zeit reifendes Einvernehmen zu pflegen, haben den Anschein einer Geselligkeit. Sie bilden nicht wirklich ein "Wir", sondern verbergen und verstärken gewöhnlich denselben Individualismus, der sich in der Fremdenfeindlichkeit und in der Geringschätzung der Schwachen ausdrückt. Die digitale Vernetzung genügt nicht, um Brücken zu bauen; sie ist nicht in der Lage, die Menschheit zu vereinen. (43)
Was bis vor wenigen Jahren von niemandem gesagt werden konnte, ohne den Respekt der gesamten Welt ihm gegenüber aufs Spiel zu setzen, das kann heute in aller Grobheit auch von Politikern geäußert werden, ohne dafür belangt zu werden. (45)
Die wahre Weisheit beinhaltet die Begegnung mit der Wirklichkeit. (47)
Wir können gemeinsam die Wahrheit im Dialog suchen, im ruhigen Gespräch oder in der leidenschaftlichen Diskussion. Es ist ein Weg, der Ausdauer braucht und auch vom Schweigen und Leiden geprägt ist. (50)
Die jüngste Pandemie hat uns erlaubt, viele Weggefährten und -gefährtinnen wiederzufinden und wertzuschätzen, die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben. Wir können erkennen, dass unsere Leben miteinander verwoben sind und durch einfache Menschen gestützt wurden, die aber zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte geschrieben haben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuungskräfte, Transporteure, Ordnungskräfte, ehrenamtliche Helfer, Priester, Ordensleute und viele, ja viele andere, die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet. (...) Schreiten wir voran in der Hoffnung! (54 und 55)
2. Ein Fremder auf dem Weg
(...) wir sind Analphabeten, wenn es darum geht, die Gebrechlichsten und Schwächsten unserer entwickelten Gesellschaften zu begleiten, zu pflegen und zu unterstützen. Wir haben uns angewöhnt wegzuschauen, vorbeizugehen, die Situationen zu ignorieren, solange uns diese nicht direkt betreffen. (64)
Betrachten wir das Modell des barmherzigen Samariters. (...) Dieses Gleichnis ist ein aufschlussreiches Bild, das fähig ist, die grundlegende Option hervorzuheben, die wir wählen müssen, um diese Welt, an der wir leiden, neu zu erbauen. Angesichts so viel Schmerzes und so vielen Wunden ist der einzige Ausweg, wie der barmherzige Samariter zu werden. (66 und 67)
Jeden Tag stehen wir vor der Wahl, barmherzige Samariter zu sein oder gleichgültige Passanten, die auf Distanz vorbeigehen. (...) es gibt einfach zwei Arten von Menschen: jene, die sich des Schmerzes annehmen, und jene, die einen Bogen herum machen; jene, die sich herunterbücken, wenn sie den gefallenen Menschen bemerken, und jene, die den Blick abwenden und den Schritt beschleunigen. (69 und 70)
Paradoxerweise können manchmal diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes besser erfüllen als die Glaubenden. (74)
Ein Volk in die Entmutigung zu stürzen ist das Schließen eines perfekten Teufelskreises - so funktioniert die unsichtbare Diktatur der wahren verborgenen Interessen, welche die Ressourcen beherrschen und die Fähigkeit, sich eine Meinung zu bilden und zu denken. (75)
Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir genießen einen Raum der Mitverantwortung, der es uns ermöglicht, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken. Wir müssen aktiv Anteil haben beim Wiederaufbau und bei der Unterstützung der verwundeten Gesellschaft. (77)
Halten wir das am Leben, was gut ist, und stellen wir uns dem Guten zur Verfügung. (77)
Tragen wir Sorge für die Zerbrechlichkeit jedes Mannes, jeder Frau, jedes Kindes und jedes älteren Menschen mit dieser solidarischen und aufmerksamen Haltung der Nähe des barmherzigen Samariters. (79)
Er [Jesus, Anm.] ruft uns nicht auf, danach zu fragen, wer die sind, die uns nahe sind, sondern uns selbst zu nähern, selbst Nächster zu werden. (...) Es geht darum, der hilfsbedürftigen Person beizustehen, ohne darauf zu schauen, ob sie zu meinen Kreisen gehört. (...) [Jesus] fordert uns auf, jeden Unterschied beiseite zu lassen und jedem Menschen angesichts des Leidens beizustehen. Ich sage also nicht mehr, dass ich "Nächste" habe, denen ich helfen muss, sondern dass ich mich gerufen fühle, den anderen ein Nächster zu werden. (80 und 81)
3. Eine offene Welt denken und schaffen
Gesunde und echte Beziehungen öffnen uns für andere, die uns wachsen lassen und bereichern. (...) Exklusive Gruppen und selbstbezogene Paare, die sich als "Wir" in Abgrenzung vom Rest der Welt definieren, sind in der Regel veredelte Formen des Egoismus und reiner Abschottung. (89)
Rassismus ist ein Virus, der leicht mutiert, und, anstatt zu verschwinden, im Verborgenen weiter lauert. (97)
Liebe, die über alle Grenzen hinausreicht, ist die Grundlage dessen, was wir in jeder Stadt und in jedem Land "soziale Freundschaft" nennen. (99)
Der Individualismus macht uns nicht freier, gleicher oder brüderlicher. Die bloße Summe von Einzelinteressen ist nicht in der Lage, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen. (105)
Um auf dem Weg des freundschaftlichen Umgangs in der Gesellschaft und der universalen Geschwisterlichkeit voranzukommen, muss es zu einer grundlegenden, wesentlichen Erkenntnis kommen: Es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, was ein Mensch wert ist, immer und unter allen Umständen. (106)
Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu leben und sich voll zu entwickeln, und kein Land kann dieses Grundrecht verweigern. Jeder Mensch besitzt diese Würde, auch wenn er wenig leistet, auch wenn er mit Einschränkungen geboren oder aufgewachsen ist; denn dies schmälert nicht seine immense Würde als Mensch, die nicht auf den Umständen, sondern auf dem Wert seines Seins beruht. Wenn dieses elementare Prinzip nicht gewahrt wird, gibt es keine Zukunft, weder für die Geschwisterlichkeit noch für das Überleben der Menschheit. (107)
Wenn die Gesellschaft in erster Linie auf den Kriterien des freien Marktes und der Leistung beruht, ist für sie kein Platz, und Geschwisterlichkeit wird zu einem allenfalls romantischen Ausdruck. (109)
Jede Gesellschaft muss für die Weitergabe von Werten sorgen, denn wenn dies ausbleibt, werden Egoismus, Gewalt und Korruption in ihren verschiedenen Formen sowie Gleichgültigkeit verbreitet, ein Leben letztlich, das jeder Transzendenz verschlossen ist und sich in individuellen Interessen verschanzt (113)
In dieser Zeit, in der sich alles zu verwässern und aufzulösen scheint, ist es gut, an die Solidität zu appellieren, die sich daraus ergibt, dass wir uns für die Schwäche anderer verantwortlich fühlen und versuchen eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. (...) Solidarität ist ein Wort, das nicht immer gefällt; ja, ich würde sagen, wir haben es manchmal sogar zu einer Art Schimpfwort gemacht, das man besser nicht in den Mund nimmt. Aber es ist ein Wort, das sehr viel mehr bedeutet als einige sporadische Gesten der Großzügigkeit. Es bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass man dem Leben aller Vorrang einräumt - und nicht der Aneignung der Güter durch einige wenige. (115 und 116)
Die Erde ist für alle da, denn wir Menschen kommen alle mit der gleichen Würde auf die Welt. Unterschiede in Hautfarbe, Religion, Fähigkeiten, Herkunft, Wohnort und vielen anderen Bereichen können nicht als Rechtfertigung für die Privilegien einiger zum Nachteil der Rechte aller geltend gemacht oder genutzt werden. (118)
Niemand darf aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen werden und schon gar nicht aufgrund der Privilegien anderer, die unter günstigeren Umständen aufgewachsen sind. Auch die Grenzen und Grenzverläufe von Staaten können das nicht verhindern. (121)
Das Recht einiger auf Unternehmens- oder Marktfreiheit kann nicht über den Rechten der Völker und der Würde der Armen stehen und auch nicht über der Achtung für die Schöpfung, denn "wenn sich jemand etwas aneignet, dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten". (122)
Die Unternehmertätigkeit ist in der Tat eine edle Berufung, "die darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern" (...) insbesondere durch die Schaffung vielfältiger Beschäftigungsmöglichkeiten. (123)
Wenn jeder Mensch eine unveräußerliche Würde hat, wenn jeder Mensch mein Bruder oder meine Schwester ist, und wenn die Welt wirklich allen gehört, ist es egal, ob jemand hier geboren wurde oder außerhalb der Grenzen seines eigenen Landes lebt. (125)
(...) es ist nicht möglich, die ernsten Probleme der Welt zu lösen, wenn man nur auf der Ebene einer gegenseitigen Hilfe zwischen Einzelpersonen oder kleinen Gruppen denkt. Machen wir uns bewusst, dass die Ungerechtigkeit nicht nur Einzelne betrifft, sondern ganze Länder. Sie verpflichtet dazu, über eine Ethik der internationalen Beziehungen nachzudenken. (126)
Es ist möglich, einen Planeten zu wünschen, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit bietet. Dies ist der wahre Weg zum Frieden und nicht die sinnlose und kurzsichtige Strategie, Angst und Misstrauen gegenüber äußeren Bedrohungen zu säen. (127)
4. Ein offenes Herz für die ganze Welt
Ideal wäre es, wenn unnötige Migration vermieden werden könnte, und das kann erreicht werden, indem man in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde und Wachstum schafft, so dass jeder die Chance auf eine ganzheitliche Entwicklung hat. Solange es jedoch keine wirklichen Fortschritte in dieser Richtung gibt, ist es unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann. Unsere Bemühungen für die zu uns kommenden Migranten lassen sich in vier Verben zusammenfassen: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren. (129)
Wenn man einen anderen Menschen herzlich aufnimmt, ermöglicht ihm das, weiterhin er selbst zu sein und sich zugleich weiterzuentwickeln. (134)
Gegenseitige Hilfe zwischen Ländern kommt letztlich allen zugute. Ein Land, das sich auf der Grundlage seiner ursprünglichen Kultur weiterentwickelt, ist wertvoll für die gesamte Menschheit. Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir die Probleme unserer Zeit nur gemeinsam oder gar nicht bewältigen werden. (137)
(...) heute, in einer Welt, die durch die Globalisierung so sehr miteinander verbunden ist, ist es offensichtlicher denn je. Wir brauchen eine rechtliche, politische und wirtschaftliche Weltordnung, "die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin fördert und ausrichtet". (138)
Diejenigen, die keine solche geschwisterliche Uneigennützigkeit üben, machen ihr ganzes Dasein zu einem mühseligen Geschäft, weil sie das, was sie geben, immerzu gegen das aufrechnen, was sie als Gegenleistung erhalten. (...) Wir haben unser Leben geschenkt bekommen, wir haben nicht dafür bezahlt. Wir alle können also etwas geben, ohne etwas dafür zu erwarten, wir können Gutes tun, ohne von der Person, der wir helfen, dasselbe zu verlangen. (140)
In sich verschlossene Nationalismen manifestieren eine Unfähigkeit, unentgeltlich zu geben, und die irrige Überzeugung, dass sie vom Niedergang der anderen profitieren können und dass sie sicherer leben, wenn sie sich anderen gegenüber abschotten. Der Einwanderer wird als Usurpator gesehen, der nichts bringt. So kommt man zu der naiven Auffassung, dass die Armen gefährlich oder nutzlos und die Mächtigen großzügige Wohltäter sind. Nur eine soziale und politische Kultur, die eine Aufnahme ohne Gegenleistung einschließt, wird eine Zukunft haben. (141)
Wir müssen auf das Globale schauen, das uns von einem beschaulichen Provinzialismus erlöst. Wenn unser Zuhause nicht mehr Heimat ist, sondern einem Gehege oder einer Zelle gleicht, dann befreit uns das Globale, weil es uns auf die Fülle hin orientiert. Gleichzeitig muss uns die lokale Dimension am Herzen liegen, denn sie besitzt etwas, was das Globale nicht hat: sie ist Sauerteig, sie bereichert, sie setzt subsidiäre Maßnahmen in Gang. Daher sind die universale Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft im Inneren jeder Gesellschaft zwei untrennbare und gleichwichtige Pole. Trennt man sie voneinander, führt dies zu Deformierung und schädlicher Polarisierung. (142)
Je weniger Weite ein Mensch in seinem Denken und Empfinden besitzt, desto weniger wird er in der Lage sein, die ihn unmittelbar umgebende Wirklichkeit zu deuten. (147)
Heute ist kein isolierter Nationalstaat in der Lage, das Gemeinwohl seiner Bevölkerung zu gewährleisten. (153)
5. Die beste Politik
Um die Entwicklung einer weltweiten Gemeinschaft zu ermöglichen, in der eine Geschwisterlichkeit unter den die soziale Freundschaft lebenden Völkern und Nationen herrscht, braucht es die beste Politik im Dienst am wahren Gemeinwohl. Leider nimmt jedoch heute die Politik oftmals Formen an, die den Weg zu einer andersgearteten Welt behindern. (154)
Der Dienst, den sie [Politiker, Anm.] ausüben, indem sie zusammenführen und leiten, kann die Grundlage für ein dauerhaftes Projekt der Umwandlung und des Wachstums sein. (...) Aber dieser Dienst verkommt zu einem ungesunden Populismus, wenn er sich in die Fähigkeit verwandelt, Konsens zu erzielen mit dem Zweck, unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen die Kultur des Volkes politisch zu instrumentalisieren, damit sie dem je persönlichen Projekt und dem Festhalten an der Macht dient. (159)
Das große Thema ist die Arbeit. (...) In einer wirklich entwickelten Gesellschaft ist die Arbeit eine unverzichtbare Dimension des gesellschaftlichen Lebens, weil sie nicht nur eine Art ist, sich das Brot zu verdienen, sondern auch ein Weg zum persönlichen Wachstum, um gesunde Beziehungen aufzubauen, um sich selbst auszudrücken, um Gaben zu teilen, um sich mitverantwortlich für die Vervollkommnung der Welt zu fühlen und schließlich, um als Volk zu leben. (162)
Die Nächstenliebe ist realistisch und verschleudert nichts von dem, was für eine Verwandlung der Geschichte nötig ist, die auf das Wohl der Letzten ausgerichtet ist. (165)
Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht. Der Neoliberalismus regeneriert sich immer wieder neu auf identische Weise, indem er - ohne sie beim Namen zu nennen - auf die magische Vorstellung des Spillover oder die Trickle-down-Theorie als einzige Wege zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme zurückgreift. Man sieht nicht, dass die vorgebliche Neuverteilung nicht die soziale Ungerechtigkeit aufhebt, die ihrerseits Quelle neuer Formen von Gewalt ist, die das gesellschaftliche Gefüge bedrohen. (168)
Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass - über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist - wir "die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen Alternativen erbaut sein, die wir brauchen." (168)
Das 21. Jahrhundert ist "Schauplatz eines Machtschwunds der Nationalstaaten, vor allem weil die Dimension von Wirtschaft und Finanzen, die transnationalen Charakter besitzt, tendenziell die Vorherrschaft über die Politik gewinnt. In diesem Kontext wird es unerlässlich, stärkere und wirkkräftig organisierte internationale Institutionen zu entwickeln, die Befugnisse haben, die durch Vereinbarung unter den nationalen Regierungen gerecht bestimmt werden, und mit der Macht ausgestattet sind, Sanktionen zu verhängen". Wenn von der Möglichkeit einer Form von politischer Weltautorität die Rede ist, die sich dem Recht unterordnet, so ist dabei nicht notwendigerweise an eine personale Autorität zu denken. Sie müsste zumindest die Schaffung von wirksameren Weltorganisationen vorsehen, die mit der Autorität ausgestattet sind, die Beseitigung von Hunger und Elend und die feste Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte zu gewährleisten. (172)
In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass eine "Reform sowohl der Organisation der Vereinten Nationen als auch der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung" notwendig ist, "damit dem Konzept einer Familie der Nationen reale und konkrete Form gegeben werden kann." (...) Es muss vermieden werden, dass dieser Organisation die Legitimation entzogen wird, denn ihre Probleme und Mängel können nur gemeinsam angegangen und gelöst werden. (173)
Gott sei Dank helfen viele Vereinigungen und Organisationen der Zivilgesellschaft, die Schwächen der internationalen Gemeinschaft, ihren Mangel an Koordination in komplexen Situationen, ihr Fehlen an Aufmerksamkeit für die grundlegenden Menschenrechte und für äußerst kritische Situationen einiger Gruppen auszugleichen. So findet das Subsidiaritätsprinzip einen konkreten Ausdruck. (175)
Ich darf betonen: "Die Politik darf sich nicht der Wirtschaft unterwerfen, und diese darf sich nicht dem Diktat und dem effizienzorientierten Paradigma der Technokratie unterwerfen." (177)
Die weltweite Gesellschaft weist schwerwiegende strukturelle Mängel auf, die nicht durch Zusammenflicken oder bloße schnelle Gelegenheitslösungen behoben werden. (179)
Es ist keine pure Utopie, jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert. (180)
Während jemand einem älteren Menschen hilft, einen Fluss zu überqueren - und das ist wahre Liebe - so erbaut der Politiker ihm eine Brücke, und auch dies ist Liebe. Während jemand einem anderen hilft, indem er ihm zu essen gibt, so schafft der Politiker für ihn einen Arbeitsplatz und übt eine sehr hochstehende Form der Liebe, die sein politisches Handeln veredelt. (186)
Diese Nächstenliebe, die das geistige Herzstück der Politik ist, ist eine Liebe, die den Letzten den Vorzug gibt, und die hinter jeder Handlung steht, die zu ihren Gunsten vollzogen wird. (187)
Der Politiker ist tatkräftig, er ist ein Erbauer mit großen Zielen und mit realistischem und pragmatischem Weitblick auch über sein Land hinaus. Die größte Sorge eines Politikers sollte nicht das Fallen der Umfragewerte sein. (188)
Wir sind noch weit entfernt von einer Globalisierung der wesentlichen Menschenrechte. Daher kann es die Weltpolitik nicht unterlassen, unter ihre unverzichtbaren Hauptziele das der effektiven Beseitigung des Hungers aufzunehmen. (...) Während wir uns in unsere semantischen und ideologischen Diskussionen verbeißen, lassen wir oftmals zu, dass auch heute noch Brüder und Schwestern verhungern und verdursten, obdachlos und ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung. Neben diesen unerfüllten Grundbedürfnissen ist der Menschenhandel eine weitere Schande für die Menschheit, welche die internationale Politik jenseits von Ansprachen und guten Absichten hinaus nicht weiter tolerieren dürfte. (189)
Die politische Nächstenliebe drückt sich auch in der Offenheit für alle aus. (190)
Während sich in der aktuellen Gesellschaft Formen von Fanatismus, von hermetisch abgeschotteten Denkweisen und die gesellschaftliche und kulturelle Fragmentierung wachsen, macht ein guter Politiker den ersten Schritt, damit verschiedene Stimmen gehört werden. (191)
Es ist eine edle Haltung, Prozesse in der Hoffnung auf die geheime Kraft des ausgesäten Guten anzustoßen, deren Früchte von anderen geerntet werden. Eine gute Politik vereint die Liebe mit der Hoffnung, mit dem Vertrauen auf die Vorräte an Gutem, die sich trotz allem im Herzen der Menschen befinden. (196)
6. Dialog und soziale Freundschaft
Ein beharrlicher und mutiger Dialog erregt kein Aufsehen wie etwa Auseinandersetzungen und Konflikte, aber er hilft unauffällig der Welt, besser zu leben, und zwar viel mehr, als uns bewusst ist. (198)
Es herrscht der Brauch, den Gegner schnell zu diskreditieren und mit demütigenden Schimpfwörtern zu versehen, anstatt sich einem offenen und respektvollen Dialog zu stellen, bei dem man eine Synthese sucht, die weiterführt. Das Schlimmste ist, dass diese im medialen Kontext einer politischen Kampagne übliche Sprache derart verbreitet ist, dass sie von allen tagtäglich verwendet wird. (201)
Der echte Dialog innerhalb der Gesellschaft setzt die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält. (203)
Der Relativismus ist keine Lösung. Unter dem Deckmantel von vermeintlicher Toleranz führt er letztendlich dazu, dass die Mächtigen sittliche Werte der momentanen Zweckmäßigkeit entsprechend interpretieren. (206)
Eine Gesellschaft ist nicht zuletzt dann edel und achtbar, wenn sie die Suche nach der Wahrheit fördert und an den Grundwahrheiten festhält. (207)
In einer pluralistischen Gesellschaft ist der Dialog der beste Weg zur Anerkennung dessen, was stets bejaht und respektiert werden muss und was über einen umstandsbedingten Konsens hinausgeht. (211)
Für Gläubige ist die menschliche Natur als die Quelle ethischer Prinzipien von Gott geschaffen, der diesen Prinzipien letztlich eine feste Grundlage verleiht. (214)
Der soziale Frieden erfordert harte Arbeit. (...) Rüsten wir unsere Kinder mit den Waffen des Dialogs aus! Lehren wir sie den guten Kampf der Begegnung! (217)
Freundlichkeit erleichtert die Suche nach Konsens und öffnet Wege, wo die Verbitterung alle Brücken zerstören würde. (224)
7. Wege zu einer neuen Begegnung
Der Weg zum Frieden bedeutet nicht, die Gesellschaft homogen zu machen, sondern zusammenzuarbeiten. (...) Oft sind Verhandlungen dringend notwendig, um konkrete Wege für den Frieden zu entwickeln. Die eigentlichen Prozesse für einen dauerhaften Frieden sind aber in erster Linie Veränderungen, die von den Volksgruppen handwerklich gestaltet werden und bei denen jeder Mensch mit seinem alltäglichen Lebensstil ein wirksamer Sauerteig sein kann. (...) Es gibt eine "Architektur" des Friedens, zu der die verschiedenen Institutionen der Gesellschaft je nach eigener Kompetenz beitragen; doch es gibt auch ein "Handwerk" des Friedens, das uns alle einbezieht. (228 und 231)
Gewaltsame öffentliche Demonstrationen von der einen oder anderen Front tragen nicht dazu bei, Lösungen zu finden. (232)
Die Förderung sozialen Freundschaft beinhaltet nicht nur die Annäherung zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich seit einer konfliktreichen Geschichte fernstehen, sondern auch das Bemühen um eine erneute Begegnung mit den ärmsten und verletzlichsten Gesellschaftssektoren. (233)
Die Geringsten der Gesellschaft wurden oft durch ungerechte Verallgemeinerungen verletzt. Manchmal reagieren die Ärmsten und Ausgestoßenen mit antisozial erscheinenden Haltungen. Wir müssen begreifen, dass diese Reaktionen häufig mit einer Geschichte von Verachtung und fehlender sozialer Eingliederung zusammenhängen. So lehrten die Bischöfe Lateinamerikas: "Nur wenn wir den Armen so nahe kommen, dass Freundschaft entstehen kann, werden wir wahrhaft schätzen lernen, was den Armen von heute wichtig ist, wonach sie sich legitim sehnen und wie sie selbst ihren Glauben leben. Die Option für die Armen soll uns dahin bringen, Freundinnen und Freunde der Armen zu werden". (234)
Wir sind gerufen, ausnahmslos alle zu lieben, aber einen Unterdrücker zu lieben bedeutet nicht, zuzulassen, dass er es weiter bleibt; es bedeutet auch nicht, ihn im Glauben zu belassen, dass sein Handeln hinnehmbar sei. Ihn in rechter Weise zu lieben bedeutet hingegen, auf verschiedene Weise zu versuchen, dass er davon ablässt zu unterdrücken; ihm jene Macht zu nehmen, die er nicht zu nutzen weiß und die ihn als Mensch entstellt. (241)
Wenn Konflikte nicht gelöst, sondern in der Vergangenheit verborgen oder begraben werden, kann Schweigen manchmal bedeuten, sich an schweren Fehlern und Sünden mitschuldig zu machen. Wahre Versöhnung aber geht dem Konflikt nicht aus dem Weg, sondern wird im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparente, aufrichtige und geduldige Verhandlungen löst. (244)
Von dem, der auf ungerechte und grausame Weise viel gelitten hat, kann man nicht eine Art "gesellschaftliche Vergebung" verlangen. Versöhnung ist eine persönliche Angelegenheit: niemand kann sie einer ganzen Gesellschaft aufzwingen, selbst wenn sie gefördert werden muss. (...) Was jedenfalls niemals vorgeschlagen werden darf, ist das Vergessen. (246)
Heute ist die Versuchung groß, das Blatt wenden zu wollen, indem man sagt, dass schon so viel Zeit verstrichen ist und wir vorwärtsblicken müssen. Um Gottes willen, nein! Ohne Erinnerung geht es nicht voran, man entwickelt sich nicht weiter ohne eine umfassende und hellsichtige Erinnerung. Wir müssen "das kollektive Bewusstsein lebendig erhalten" und "den nachfolgenden Generationen das schreckliche Geschehen" bezeugen. So wird das Gedächtnis an die Opfer wachgerufen und bewahrt, "damit das menschliche Gewissen immer stärker werde gegenüber jedem Willen zur Vorherrschaft und zur Zerstörung". (249)
Diejenigen, die vergeben, vergessen nämlich nicht. Aber sie weigern sich, von der gleichen zerstörerischen Kraft besessen zu werden, die ihnen Leid zugefügt hat. Sie durchbrechen den Teufelskreis und stoppen das Vordringen der zerstörerischen Kräfte. Sie beschließen, die Gesellschaft nicht weiterhin mit der Rachsucht anzustecken, die früher oder später wieder auf sie selbst zurückfällt. Denn Rache löst nie wirklich das Ungemach der Opfer. (251)
Krieg ist kein Gespenst der Vergangenheit, sondern ist zu einer ständigen Bedrohung geworden. Die Welt tut sich immer schwerer auf dem langsamen Weg zum Frieden, den sie eingeschlagen hatte und der allmählich Früchte zu tragen begann. (256)
Deshalb können wir den Krieg nicht mehr als Lösung betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm zugeschrieben wurde, überwiegen. Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell "gerechten Krieg" zu sprechen. Nie wieder Krieg! (258)
Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen. (261)
Es gibt einen weiteren Weg, den anderen zu vernichten, bei dem es nicht um Länder, sondern um Menschen geht. Es ist die Todesstrafe. Der heilige Johannes Paul II. hat klar und entschieden erklärt, dass sie auf moralischer Ebene ungeeignet und schon auf strafrechtlicher Ebene unnötig ist. Es ist unmöglich, an ein Zurückfallen hinter diese Position zu denken. Heute sagen wir klar und deutlich, dass die Todesstrafe unzulässig ist, und die Kirche setzt sich mit Entschlossenheit dafür ein, zur Abschaffung der Todesstrafe in der ganzen Welt aufzurufen. (263)
Die entschiedene Ablehnung der Todesstrafe zeigt, wieweit wir die unveräußerliche Würde jedes Menschen anerkennen und akzeptieren können, dass auch er seinen Platz in dieser Welt hat. (269)
8. Die Religionen im Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt
Ausgehend von der Wertschätzung jedes Menschen als Geschöpf mit der Berufung zur Gotteskindschaft, leisten die verschiedenen Religionen einen wertvollen Beitrag zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft. (271)
Es stimmt, dass religiöse Amtsträger keine Parteipolitik betreiben sollten, die den Laien zusteht, aber sie können auch nicht auf die politische Dimension der Existenz verzichten, die eine ständige Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl und die Sorge um eine ganzheitliche menschliche Entwicklung umfasst. Die Kirche "hat eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft", sondern sich in den "Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit" stellt. (276)
Es gibt ein grundlegendes Menschenrecht, das auf dem Weg zur Geschwisterlichkeit und zum Frieden nicht vergessen werden darf, und das ist die Religionsfreiheit für die Gläubigen aller Religionen. (279)
Zwischen den Religionen ist ein Weg des Friedens möglich. Der Ausgangspunkt muss der Blick Gottessein. Denn "Gott schaut nicht mit den Augen, Gott schaut mit dem Herzen. Und Gottes Liebe ist für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion. Und wenn er Atheist ist, ist es die gleiche Liebe. Wenn der jüngste Tag kommt und es genug Licht auf der Erde gibt, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind, werden wir viele Überraschungen erleben!" (281)
Als Gläubige sind wir herausgefordert, zu unseren Quellen zurückzukehren, um uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Anbetung Gottes und die Nächstenliebe, damit nicht einige Aspekte unserer Lehren, aus dem Zusammenhang gerissen, am Ende Formen der Verachtung, des Hasses, der Fremdenfeindlichkeit und der Ablehnung des anderen fördern. Die Wahrheit ist, dass Gewalt keinerlei Grundlage in den fundamentalen religiösen Überzeugungen findet, sondern nur in deren Verformungen. (282)
Religiöse Überzeugungen von der Heiligkeit des menschlichen Lebens ermöglichen es, "dass wir alle die Grundwerte des gemeinsamen Menschseins anerkennen. Im Namen dieser Werte kann und muss man zusammenarbeiten, aufbauen und miteinander reden, vergeben und wachsen und so es den verschiedenen Stimmen möglich machen, einen edlen harmonischen Gesang zu bilden anstatt fanatischen Hassgeschreis". (283)
Als religiöse Führungspersönlichkeiten sind wir dazu aufgefordert, wahre "Dialogpartner" zu sein und bei der Arbeit für den Frieden nicht bloße Mittelsmänner, sondern authentische Mittler zu sein. (...) Ein jeder von uns ist aufgerufen, Friedensstifter zu sein, der einigend wirkt und nicht trennt, der den Hass auslöscht und ihn nicht aufrechterhält, indem er Wege des Dialoges öffnet und keine neuen Mauern errichtet". (284)
Bei dem brüderlichen Treffen mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyib, an das ich mich freudig erinnere, "erklären wir mit Festigkeit, dass die Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern. Diese Verhängnisse sind Frucht der Abweichung von den religiösen Lehren, der politischen Nutzung der Religionen und auch der Interpretationen von Gruppen von religiösen Verantwortungsträgern, die in gewissen Geschichtsepochen den Einfluss des religiösen Empfindens auf die Herzen der Menschen missbraucht haben [...]. Denn Gott, der Allmächtige, hat es nicht nötig, von jemandem verteidigt zu werden; und er will auch nicht, dass sein Name benutzt wird, um die Menschen zu terrorisieren". Deshalb möchte ich hier den Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit, den wir gemeinsam gemacht haben, wieder aufgreifen: (285)
Bei diesen Überlegungen zur Geschwisterlichkeit aller Menschen habe ich mich besonders von Franz von Assisi, aber auch von nichtkatholischen Brüdern inspirieren lassen: Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Gandhi und viele andere. Zum Schluss möchte ich jedoch an einen weiteren Menschen tiefen Glaubens erinnern, der aus seiner intensiven Gotteserfahrung heraus einen Weg der Verwandlung gegangen ist, bis er sich als Bruder aller fühlte. Dies ist der selige Charles de Foucauld. (286)