
Bucher: "Die Zeiten sind nicht dazu angetan, dass Theologie brav wird"
Angesichts der Tatsache anhaltender gesellschaftlicher wie kirchlicher Krisen muss sich die akademische Theologie der Frage stellen, wo ihr eigentlicher Ort ist bzw. wie es ihr gelingen kann, in "radikaler Gegenwart" zu stehen: Ganz im Zeichen einer Reflexion auf diese Generalfrage und seine eigene akademische Laufbahn stand die Abschiedsvorlesung, die der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher am vergangenen Freitag, 1. Juli, an der Universität Graz gehalten hat. Die Welt stehe "an der Schwelle zu etwas Unbekanntem und etwas Gefährlichem" - angesichts dessen brauche es eine Theologie, die sich in "radikaler Solidarität und radikaler Gegenwärtigkeit" übe, plädierte Bucher. "Die Zeiten sind nicht dazu angetan, dass Theologie brav wird".
Tatsächlich sei die Theologie in mehrfacher Hinsicht gehemmt und gebremst: Zum einen, "weil uns das kirchliche Lehramt mit Diskurskonstellationen von gestern bedrängt und die Universität uns in zahlenbasierten Wettbewerb und Selbstdarstellungsmarketing zwingt" - zum anderen aber auch, weil es kirchliche "Verdunkelungen und Verdüsterungen" gebe wie etwa den Versuch, an "katholischen Identitätsmarkern festzuhalten" statt mutige Entwürfe für die Zukunft zu wagen. Zu diesen Verdunkelungen zähle weiters die im Missbrauchsskandal offen gelegte "Empathielosigkeit gegenüber dem Leiden der Betroffenen".
Aus all dem folge, dass die Kirche heute mit einer "weitgehend dysfunktionalen Sozialgestalt (...) in die nach-konstantinische Epoche religiöser Selbstbestimmung" gehe. Dieser Niedergang einer "konstantinischen, sanktionsbewährten Formation der Kirche" sei "nicht aufzuhalten und man kann ihn nur begrüßen", so Bucher weiter. Schließlich sei dies die Voraussetzung dafür, dass Kirche und Glaube überhaupt Zukunft haben werden.
Zukunft der Theologie
Auch die Theologie werde aus dieser Entwicklung nicht unverändert hervorgehen: "Vielleicht bräuchte es ja in Zukunft eine Theologie, die sich nicht so sehr an den klassischen Fachtraditionen, nicht an den klassischen Fragestellungen und Traktaten orientiert, sondern an den tatsächlich revolutionär neuen Konstellationen, in denen sie heute betrieben wird". Dies würde auch den Blick auf Lesarten der biblischen Botschaft neu freigeben - etwa auf jene des Philosophen Slavoj Zizek, die er persönlich teile, so Bucher abschließend: "Die von Jesus postulierte Möglichkeit des radikalen Neuanfangs, Jesu Fähigkeit, die Logik der Rache zu durchbrechen, und schließlich die im Christentum festgehaltene Einsicht in die unübersteigbare Rätselhaftigkeit des Menschen, die durch das Sich-Einreihen Gottes in die Menschheit symbolisch festgehalten sei."
Grußworte bei der Abschiedsvorlesung sprachen u.a. nach der Begrüßung durch den Dekan Pablo Argarate Bildungsminister Martin Polaschek, der Grazer Bischof Wilhelm Krautwaschl, die Vorsitzende des Universitätsrates, Caroline List, sowie der Rektor der Universität Graz, Peter Riedler. Würdigungen und Kurzstatements sprachen außerdem Teresa Schweighofer (Berlin), Reinhold Esterbauer und Maria Elisabeth Aigner (beide Graz) sowie Hans-Joachim Sander (Salzburg) und Birgit Hoyer (Berlin).
Rainer Bucher wurde 1956 in Nürnberg geboren. Er studierte Theologie in Freiburg und Würzburg. 1986 promovierte er mit einer Arbeit über das Spätwerk Friedrich Nietzsches. 1996 folgte die Habilitation für das Fach Pastoraltheologie an der Universität Bamberg mit einer Arbeit zur Pastoral- und Theologiegeschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es folgte eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Bamberg und schließlich im Jahr 2000 der Ruf auf den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. (Infos: https://pastoraltheologie.uni-graz.at/de bzw. http://rainer-bucher.de)
Zulehner reflektiert eigene theologische Arbeit
Den Abschied des Pastoraltheologen Rainer Bucher von der Universität Graz nahm zudem der bereits emeritierte Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner zum Anlass, über sein eigenes pastoraltheologisches Wirken öffentlich in seinem Blog (https://zulehner.wordpress.com) nachzudenken. Nach einer Würdigung der wissenschaftlichen Verdienste Buchers - ein "Pastoraltheologisches Lebenswerk, das sich sehen lassen kann" - stellte Zulehner u.a. die Fragen, ob er deutlich genug gemacht habe, dass die Kirche "bei all ihren Schwächen und Mängeln" zu den "rar gewordenen Hoffnungsressourcen" zähle - oder ob er unabsichtlich zur Schwächung eben dieser Ressourcen beigetragen habe.
Ebenso stelle er sich selbstkritisch die Frage, ob er ein "Kassandrarufer des Untergangs" war oder ein "hoffnungsvoller Prophet des Übergangs" und der Transformation. Dies bleibe schließlich auch nicht wirkungslos für die vielen ehrenamtlich Engagierten, zu denen die Pastoraltheologie sprechen müsse und von denen sie auch lernen sollte. "Ist es mir gelungen, den tiefen Graben zwischen den vielen Engagierten und dem akademischen Raum zu überbrücken", so seine Frage. Kurzum: "Konnte ich mit meiner pastoraltheologischen Arbeit in Forschung und Lehre der Jesusbewegung in der Welt von heute etwas Rückenwind schenken? Oder habe ich lediglich (...) Trauerarbeit an einer sterbenden Kirchengestalt geleistet"?
Quelle: kathpress