Theologe Lintner: Viele "Baustellen" in katholischer Sexualmoral
"Um nicht weniger als um die Begründung einer erneuerten Sexualmoral" der katholischen Kirche geht es dem Brixener Moraltheologen P. Martin M. Lintner bei seinem neuen, umfassenden Band "Christliche Beziehungsethik". Diese sei eine "ewige Baustelle". Wie er im Interview des Südtiroler "Katholischen Sonntagsblattes" (Ausgabe 25. Oktober) erklärte, wolle er den "Wandel von einer Verbots- und Gebotsmoral hin zu einer personalen Beziehungsmoral" wissenschaftlich grundlegen, "bei der Haltungen und Kompetenzen im Vordergrund stehen, nicht in erster Linie Vorschriften".
Der auf Verantwortung ausgerichtete Ansatz Lintners ist im Vatikan nicht unumstritten: Sein viel rezipiertes Vorgänger-Buch "Den Eros entgiften" (2011) führte zu Denunzierungen im zuständigen Dikasterium. Lintners Wahl zum Dekan der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen wurde vom Vatikan die Zustimmung verweigert und dies mit seinen Publikationen zur kirchlichen Sexualmoral begründet. Nach der Verweigerung des "Nihil obstat" durch Rom verlängerte Bischof Ivo Muser (Bozen-Brixen) die Amtszeit des amtierenden Dekans um ein Jahr, um Zeit zu gewinnen, die Einwände gegen Lintner neu zu prüfen. "Der Ball liegt also beim Vatikan", so der Theologe nun im Interview des "Sonntagsblattes".
Dort formulierte Lintner auch Leitfragen, die er auch mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen und neue humanwissenschaftliche Erkenntnisse in seinem neuen, 600 Seiten umfassenden Buch behandelt: "Wie können wir Menschen befähigen, verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität und deren Sinngehalten umzugehen und ihre Beziehungen zu gestalten, auch dann, wenn sie nicht der kirchlichen Idealvorstellung von Ehe entsprechen? Wie können wir die sakramentale Ehe wertschätzen, ohne zugleich andere Beziehungsformen nur negativ zu bewerten?" Im "Gegenwärtige Perspektiven" genannten Kapitel gehe er auch auf Themen ein wie Menschenhandel, Prostitution, Pornographie, zwanghaftes sexuelles Verhalten wie Sexsucht und anderes mehr, erläuterte Lintner.
Wie "Operation am offenen Herzen"
Dieses Kapitel verglich der Moraltheologe mit einer "Operation am offenen Herzen", weil derzeit vieles im Umbruch sei, ohne dass man bereits absehen könne, in welche Richtung sich die kirchliche Lehre weiterentwickeln wird. "Auch aus dem Vatikan kommen viele Signale, dass etwas in Bewegung ist, zugleich gibt es stark beharrende Kräfte, die jede Veränderung als Bruch mit der Tradition ablehnen."
In zwei weiteren Abschnitten des fast 700 Seiten umfassenden Buches widmet sich Lintner, wie er mitteilte, historischen Entwicklungen der Sexual- und Ehelehre vom frühen Christentum bis herauf zu Papst Franziskus sowie einer Analyse biblischer Texte. Beim geschichtlichen Rückblick habe sich deutlich gezeigt: "Was im Kontext von bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten plausibel erscheint, kann sich bei geänderten Umständen als fragwürdig erweisen." Lintner: "Wer sagt, dass die kirchliche Lehre zu Ehe und Familie seit jeher unverändert überliefert wurde, der irrt sich."
Anhand der neutestamentlichen Texte lasse sich z.B. auch gut aufzeigen, wie unterschiedlich die urchristlichen Gemeinden mit überlieferten Weisungen Jesu umgingen. Die biblischen Texte, allesamt 2.000 Jahre alt und älter, sind laut Lintner "von einer überraschenden Aktualität". Das verwundere nicht, "wenn wir bedenken, dass sie urmenschliche Erfahrungen im Licht des Glaubens beleuchten". Auch wenn sich die historischen Umstände änderten, sei damals wie heute "zum Beispiel sexuelle Gewalt ein grobes Unrecht". Dass Sexualität ein Mittel sein könne, um soziale Beziehungen zu strukturieren, Macht auszuüben oder Menschen zu manipulieren, dass sie aber auch Ausdruck von Liebe und Zuneigung ist, sei an vielen Stellen in der Bibel zu finden, so Lintner weiter. "Wo die biblischen Texte aber nicht ausreichen, ist bei der Begründung einer systematischen ethischen Lehre zu Sexualität, Ehe und Familie." Daher dürfe man sich von der Bibel "nicht einfach Antworten auf unsere heutigen Fragen erwarten". Als Offenbarung bleibe die Heilige Schrift aber die verbindliche Richtschnur für den christlichen Glauben und auch für das christliche Verständnis des sittlichen Handelns.
Sexuallehre und Missbrauchsskandal
Auf die Frage, ob die nach dem kirchlichen Missbrauchsskandal erhobene Forderung einer Reform der Sexualmoral Anlass für sein Buch war, sagte Lintner: "Ja und nein. Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals ist nur eine der großen Herausforderungen, die die Kirche zu bewältigen hat." Unmittelbare ursächliche Zusammenhänge zwischen den Missbrauchstaten und der kirchlichen Sexualmoral sehe er keine - wie auch unabhängige Studien bestätigten. Entscheidend ist laut Lintner die "Frage, welche Sexualmoral für die persönliche Reifung und für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität förderlich ist". Missbrauchs-fördernd wirken könne es, wenn die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und den damit verbundenen emotionalen Bedürfnissen verdrängt werden. Zudem seien strukturelle Faktoren zu bedenken, wie etwa der Umgang mit Macht und Autorität sowie die transparente Kontrolle darüber.
Den Anstoß zum Buch hätten auch gesellschaftliche Entwicklungen in Bezug auf Ehe und Familie gegeben, die heutige Vielfalt an Beziehungs- und Familienformen, in der viele Menschen de facto leben, weiters die Einsichten aus der Sexualmedizin und aus der Geschlechterforschung, wie Lintner ausführte. Wichtig sei ihm die Frage der sittlichen Selbstbestimmung auch in Bezug auf das sexuelle Verhalten: "Hier versuche ich, den Ansatz einer beziehungsorientierten Verantwortungsethik stark zu machen."
Buchpräsentation am 14. November in Wien
Martin Lintner ist Mitglied des Servitenordens und seit 2009 Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie in Brixen. Im vergangenen Jahrzehnt war er international vielfach vernetzt, u.a. als Präsident der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie und Vorsitzender der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik.
Lintners Buch "Christliche Beziehungsethik - Historische Entwicklungen, biblische Grundlagen, gegenwärtige Perspektiven" erschien im Herder-Verlag und kostet 58 Euro. Am 14. November um 19 Uhr präsentiert der Moraltheologe sein Buch in der Wiener Herder-Buchhandlung (Wollzeile 33) bei einem Abend unter dem Titel "Welche Zukunft hat die christliche Beziehungsethik?"
Quelle: Kathpress