Experten: Lage in Syrien bleibt unübersichtlich
Auch wenn das Regime von Baschar Al-Assad wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt ist, heißt das noch lange nicht, dass sich in Syrien nun alles zum Besseren wenden wird. "Wer das meint und damit auch schon politische Forderungen nach einer Rückkehr oder Abschiebung von Syrern schon jetzt verbindet, der hat, gelinde gesagt, schlicht keine Ahnung von der tatsächlichen Situation vor Ort", so Slawomir Dadas, Obmann der Initiative Christlicher Orient (ICO), im Kathpress-Interview am Donnerstag.
"Gott sei Dank" sei laut Dadas der Umsturz im ehemaligen Regierungsgebiet weitgehend friedlich erfolgt, doch es gebe nach wie vor heftige Kämpfe im Land, etwa zwischen den von der Türkei unterstützten Milizen und den Kurden im Nordosten des Landes.
Das Land liege außerdem wirtschaftlich und sozial völlig am Boden. In vielen Landesteilen gab es seit spätestens 2017 keine Kämpfe mehr, die Wirtschaft sei trotzdem nicht in Schwung gekommen. Vielmehr sei die Bevölkerung immer mehr ins Elend gerutscht. "Das lag am Regime, genauso aber auch an den internationalen Sanktionen gegen Syrien, die nicht die Machthaber, sondern nur die einfache Bevölkerung trafen." Dadas plädierte in diesem Zusammenhang einmal mehr dafür, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben.
Welchen Kurs die aktuellen Machthaber künftig geben werden, sei derzeit noch völlig unklar, so Dadas. Er wies darauf hin, dass die nun herrschende HTS-Miliz (Hai'at Tahrir asch-Scham) in den USA, der EU und Großbritannien auf der Liste ausländischer Terrororganisationen stehe.
Besorgniserregende Anzeichen
ICO-Geschäftsführerin Michlin Alkhalil, die selbst aus Syrien stammt, berichtete im Kathpress-Interview von unterschiedlichsten Erfahrungen der Bevölkerung in den letzten Tagen. Frauen würden auf den Straßen von Damaskus bereits von Milizionären darauf angesprochen, warum sie kein Kopftuch tragen. Alle Alkoholgeschäfte mussten schließen, Paare würden im Straßenverkehr darauf kontrolliert, ob sie verheiratet seien. Insofern hätten nicht nur die Angehörigen der religiösen und ethnischen Minderheiten Angst vor der Zukunft, sondern auch viele säkulare Muslime. Geschäfte und Schulen seien inzwischen aber jedenfalls wieder geöffnet.
Weihnachten, so höre man vor Ort von kirchlichen Verantwortlichen, werde wohl nur in den Kirchen mit Gottesdiensten gefeiert. Das bunte Weihnachtreiben auf den Straßen, bei dem auch immer viele Muslime mit dabei sind, werde ausfallen, befürchtete Alkhalil. Sie wies auch darauf hin, dass die neuen Machthaber alle Insassen aus den Gefängnissen des Regimes befreit hätten. Das betreffe nicht nur politische Häftlinge, sondern auch gewöhnliche Kriminelle.
Alkhalil: "Viele Menschen haben Angst, dass Syrien zu einem neuen Libyen wird oder es zu einer Situation kommt wie in Ägypten unter den Muslimbrüdern." Nachsatz: "Die Menschen warten und hoffen."
Wie Alkhalil weiter sagte, gebe es natürlich Syrer in Österreich, die es nicht schafften, sich hier zu integrieren, und die deshalb auch gerne möglichst bald zurückkehren wollten. Viele andere seien in Österreich aber auch schon sehr gut integriert und wollten bleiben.
Hilfe muss weitergehen
ICO-Obmann Dadas bekräftigte, dass die ICO ihre Hilfe für die Menschen in Not in Syrien weiterführen werde. Die ICO unterstützt beispielsweise Schulprojekte für Flüchtlingskinder in Latakia, Hilfe für traumatisierte Kinder in Aleppo oder ein Altenheim in Al-Mouzineh. Besonders notwendig ist auch die jährliche Winternothilfe, bei der u.a. mehr als tausend Kinder mit warmer Winterbekleidung ausgestattet werden.
"Unsere Hilfe geht direkt zu Betroffenen vor Ort und zu niemandem sonst", so Dadas. Und diese Hilfe werde man auch weiterführen, wenn das öffentliche Interesse von Syrien zu einem neuen Krisenherd weiterziehen wird. Er bitte deshalb auch die Österreicherinnen und Österreicher um Spenden für die Menschen in Not in Syrien.
Infos und Spenden: www.kircheinnot.at bzw. www.christlicher-orient.at
Quelle: Kathpress