Der Abstauber Gottes
Mozart. In Wien führt kein Weg an ihm vorbei. Auch dann nicht, wenn man in einem schmucklosen Büro am Stephansplatz Reinhard Gruber gegenübersitzt. Umgeben von Akten und Folianten wacht der 45-Jährige über einen staubigen Schatz: Das Domarchiv. Die Geschichte des Stephansdomes in alten Schachteln, vergilbten Dokumenten und akribisch nummerierten Ordnern. Gezielt greift er nach einem dicken Folianten. Das Jahr – 1791 – ist kaum mehr zu entziffern. Mit wenigen Handgriffen hat der Domarchivar einen Eintrag vom 5. Dezember aufgeschlagen. Mozarts Sterbetag. Mit einem eigenen Wagen wurde der große Komponist und Musiker demnach zum Sankt Marxer Friedhof gebracht. 3 Gulden Aufschlag kostete das. Insgesamt kostete das Begräbnis mehr als 11 Gulden. Kein Pappenstiel für damalige Verhältnisse. Von Armen-Begräbnis keine Spur, sagt Gruber.
Es sind solche Anekdoten und Geschichten, die seine Augen zum Leuchten bringen. "Es ist mein Traumjob", räumt der gebürtige Tiroler freimütig ein. Ein Traumjob allerdings, für den er hart arbeiten musste. Seit über 20 Jahren tut er inzwischen Dienst am "Steffl" – zunächst als Kirchenführer und Mesner, seit 17 Jahren nun bereits als Archivar. Eine Stelle, die es so zuvor gar nicht gab. Ebenso wenig wie es ein Archiv gab, das seinen Namen verdient hätte. Berge von Kisten und Schachteln, Aktenschränke voller unsortierter Dokumente wurden im Jahr 2000 plötzlich zu seinem Arbeitsplatz. Was der studierte Theologe seither geleistet hat, kann nur ermessen, wer einmal die Inventarlisten durchblättert oder die Schrankreihen abgeschritten hat, die die Räume im ersten und zweiten Stock des Wiener Curhauses am Stephansplatz füllen.
"Man darf halt keine Stauballergie haben", schmunzelt Gruber, wenn er über die wichtigsten Eigenschaften eines guten Archivars nachsinnt. Genauigkeit, Ordnungssinn – eh klar, das ist unabdingbar. "Auch zuhause hab ich’s schließlich gern aufgeräumt". Doch einen guten Archivar zeichnet wie in Grubers Fall auch etwas anderes, Essentielles aus: die Liebe zur Kirche. "Ich bin in Tirol mit Speck, Schnaps und Katholizismus groß geworden", bringt er seine Herkunft mit einem breiten Lachen auf den Punkt. Geblieben ist ihm heute die Liebe zur Kirche – und zum Tiroler Speck. Tirol isch halt lei oans – und so ziert auch ein großes Bild des Tiroler Klosters Stams, wo Gruber maturierte, einen der Metallschränke im Archiv.
Viel und mit Leidenschaft kann er erzählen – über die rasante Entwicklung im Archivwesen, die Digitalisierung, aktuelle Vernetzungsprojekte. Das Feuer indes erwacht in ihm, wenn es ans Anekdotische geht, an Details etwa ein Chronikeintrag aus dem 19. Jahrhundert zur Entlassung eines Hausmeisters im dompfarrlichen Dienst, der – obgleich für seine Tätigkeiten und Fähigkeiten hoch gelobt – schließlich entlassen wurde. Der Grund wird dann auf Latein angegeben: Er hat die Küchenmagd geschwängert. Die ältesten Matriken-Bücher reichen bis ins Jahr 1523 zurück. Es sind Totenbücher und doch Quellen überschäumenden Lebens, steht doch hinter jedem Sterbedatum zugleich stets ein Geburtsdatum und die Biografie eines Menschen.
Und Menschen, Menschliches, ja, allzu Menschliches ist es auch, was ein Archiv lebendig werden lässt. Bücher sprechen schließlich nicht. Es sind Menschen mit Geschichten. Menschen wie Reinhard Gruber. Überliefert ist die Geschichte, dass er bei seinem ersten Besuch in Wien zum Papstbesuch 1983 im Angesicht des Stephansdomes zu seinem Vater gesagt habe: "Ich möchte den Schlüssel zu dieser Kirche haben". Heute führt er gleich mehrere Schlüssel zum Dom stets mit sich. Schmucklose Sicherheitsschlüssel – schmuckslos wie sein Büro, und doch sind sie für Gruber die Eintrittskarte nicht nur in ein großes steinernes Haus im Herzen Wiens, sondern in Geschichte, Tradition und Gegenwart der Kirche, seiner Kirche.
Vielleicht wäre der Welt ein Mythos erspart geblieben, wenn Regisseur Miloš Forman bei den Arbeiten zu seinem monumentalen Film "Amadeus" zuvor bei Reinhard Gruber angefragt und ins Sterbebuch der Familie Mozart geblickt hätte. Der Mythos vom verarmten, missverstandenen Genie Mozart, der verarmt in einem Massengrab verscharrt wurde. 1984 wurde der Film zum Welterfolg. Da war Gruber gerade 12 Jahre alt. Das Domarchiv existierte da noch nicht – aber immerhin: Speck, Schnaps und Katholizismus waren gerade dabei, ihm den Weg nach Wien zu ebnen…
Henning Klingen, katholisch.at