Schockenhoff: Papst vollzieht Paradigmenwechsel in Morallehre
Der renommierte Freiburger Moraltheologe Prof. Eberhard Schockenhoff hat das vor zwei Jahren veröffentlichte nachsynodale Papstschreiben "Amoris laetitia" (AL) als Paradigmenwechsel nach einer 150-jährigen, noch von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. vertretenen engen neuscholastischen Morallehre-Tradition bezeichnet. Franziskus habe ein Dokument vorgelegt, in dem nicht verurteilt und hinuntergestuft werde, sondern in dem eine "einladende, werbende Pastoral" spreche. Der Papst betone über die ganzen 200 Seiten hinweg, dass "nicht das Fehlerfreie das Christliche ist, sondern dass die Lebenssituation der Menschen davon geprägt ist, dass sie irgendwo zurückbleiben", so Schockenhoff am Mittwoch im Rahmen der Wiener "Akademie am Dom".
Franziskus ermutige in AL, Schritte zu gehen, die zum Wachstum führen, sagte der Schüler Kardinal Walter Kaspers; der emeritierte Kurienkardinal ist ein enger Papstvertrauter. Kasper hatte 1993 als damaliger Bischof von Stuttgart-Rottenburg gemeinsam mit weiteren südwestdeutschen Bischöfen ein viel beachtetes "Hirtenwort zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und Wiederverheirateten Geschiedenen" veröffentlicht, das auch die Möglichkeit eines Kommunionempfanges vorsah. Die Bischöfe waren damit aber im Vatikan abgeblitzt.
Genau den damals nicht genehmigten Ansatz griff Papst Franziskus jedoch 2016 in AL auf, wobei er das Synodenkommunique 2014/15 der deutschen Sprachgruppe als Grundlage heranzog, wies Schockenhoff hin: "'Amoris laetitia' ist eine eindeutige Bestätigung des damaligen Zugehens der südwestdeutschen Bischöfe auf wiederverheiratete Geschiedene."
Das Papstdokument zu Ehe und Familie von 2016 wende sich gegen ein kategorisches Sakramentenverbot für Wiederverheiratete. Denn der Papst beschreibe nicht mehr jede Abweichung von der idealen Norm als schwere Sünde. Er wolle eben keine abstrakte Wahrheit für alle formulieren, betonte der deutsche Theologe. Vielmehr fordere Franziskus, auf die jeweilige Lebenssituationen passende Einzelfallentscheidungen zu treffen.
Kritik beruht auf falschem Traditionsverständnis
Der deshalb an die Adresse des Papstes gerichtete Vorwurf, damit verrate er eine lange, ununterbrochene katholische Lehrüberlieferung, zeige ein historisch uninformiertes, dogmatisch falsches Traditionsverständnis. "Denn tatsächlich kehrt die Argumentation von Amoris laetitia nur einem neuscholastisch verengten Traditionssegment des 19. Jahrhunderts den Rücken, um den Anschluss an einen breiteren Strom des moraltheologischen Denkens zurückzugewinnen, der in der Zeit der neuscholastischen Handbuchmoral verlorengegangen war." Franziskus nehme für diese Neuorientierung in Anspruch, dass sie auf einer soliden moraltheologischen Basis stehe. Insbesondere berufe er sich auf Thomas von Aquin.
AL, ein Dokument, mit dem Papst Franziskus die Ergebnisse der Bischofssynoden von 2014 und 2015 zusammenfasste, stelle so "die wichtigste Äußerung des universalkirchlichen Lehramtes zu Sexualität und Partnerschaft, Ehe und Familie seit dem Lehrschreiben 'Familiaris consortio' von Papst Johannes Paul II." aus dem Jahr 1981 dar. Durch das gesamte Apostolische Schreiben zieht sich laut Schockenhoff wie ein roter Faden die Mahnung an die Seelsorger, beim Blick auf menschliche Handlungsweisen auch die Umstände einzubeziehen, die sie beeinflussen.
So könne es laut AL sein, dass dieselbe Norm im Blick auf verschiedene Einzelsituationen zu unterschiedlichen praktischen Schlussfolgerungen führe. In praktischen Urteilen herrsche nämlich nur auf einer allgemeinen Prinzipienebene ein und dieselbe, für alle Fälle gültige Wahrheit und Richtigkeit, während die praktische Vernunft, je weiter sie zur Beurteilung des Konkreten hinabsteigt, einen breiteren Spielraum legitimer Lösungsmöglichkeiten besitze, deren Richtigkeit nicht für alle Fälle dieselbe sei.
Umstände einer Handlung sind zu beachten
Deutlich sei die Akzentverschiebung in der Interpretation der moraltheologischen Lehre von den "Fontes moralitatis" (mit diesem Begriff bezeichnete die Scholastik die "Quellen" bzw. Kriterien für die sittliche Beurteilung einer Handlung, Anm.) gegenüber der Enzyklika "Veritatis splendor" (1993) von Papst Johannes Paul II. In "Veritatis splendor" werde betont, dass eine Handlung, die bereits aufgrund ihres Objekts sittlich schlecht sei, niemals durch die besonderen Umstände einer bestimmten Situation, in der sich der Handelnde befinde, eine andere moralische Qualifikation gewinnen könne, so Schockenhoff. "Entsprechend dem neuscholastischen Verständnis ist es der materiale Gegenstand einer Handlung, der diese in moralischer Hinsicht vollständig bestimmt, so dass die Intention des Handelnden oder die besonderen Handlungsumstände den moralischen Wert der Handlung nur noch akzidentell beeinflussen können, indem etwa die subjektive Schuldhaftigkeit gesteigert oder vermindert wird."
Ausgeschlossen bleibe aber, dass eine durch ihren Gegenstand als artgemäß schlecht qualifizierte Handlung aufgrund der Beachtung besonderer Umstände als sittlich vertretbar oder gar als erlaubt angesehen werden könne. Der Vernunft komme nämlich nach Ansicht Johannes Pauls II. nicht die Rolle zu, die Gesamtheit relevanter Umstände zu prüfen, die in den Gegenstand der Handlung eingehen und deren sittliche Qualifikation mitbestimmen.
AL greife hingegen hinter den Lösungsansatz der Neuscholastik zurück und berufe sich stattdessen auf die thomanische Lehre von den "Fontes moralitatis". Danach könne der Gegenstand einer Handlung bei manchen Handlungen nicht abschließend bestimmt werden, ohne dass die Vernunft prüft, welche Umstände in ihn einbezogen werden müssen.
Quelle: kathpress