WELTGEBETS|WOCHE
"Wo führen wir ehrliche Gespräche auch über das, was uns trennt?" Ganz unverfänglich steht es in den Vorschlägen für die biblische Meditation am ersten Tag der diesjährigen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen. Immerhin sind diese Texte vom Weltkirchenrat und vom Vatikan gemeinsam approbiert und abgesegnet. Aber was heißt der schöne Satz eigentlich? Ist er vielleicht nur gewohnheitsmäßig über die Schreibtische in Genf und in Rom gehuscht, ohne dass sich jemand besonders viel dabei gedacht hat?
Ja, "wo führen wir ehrliche Gespräche auch über das, was uns trennt?" Ökumene ist in den letzten Jahrzehnten zu einer mehr oder minder ritualisierten Alltagsbeschäftigung geworden. Keiner willl dem anderen etwas zuleide tun. Gott sei Dank! Ältere werden sich zurück erinnern, welche absurden wechselseitigen "Aburteilungen" noch vor 50 oder 60 Jahren auch in Österreich unter Christen üblich waren.
Seither ist viel geschehen. Im Zeichen des 50-Jahr-Jubiläums des Zweiten Vatikanischen Konzils muss man daran erinnern, dass sich damals endlich auch die katholische Kirche in die ökumenische Bewegung eingeklinkt hat. Entstanden war diese Bewegung im reformatorischen Bereich – vor mehr als 100 Jahren. Aber es schadet auch nicht, daran zu erinnern, dass das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel 1920 eine Enzyklika veröffentlichte, in der alle Christen zur Wiedervereinigung aufgerufen wurden.
Vielleicht ist die Ökumene, auf die wir heute so stolz sind, auch eine Frucht der Leiden der orthodoxen Christen zwischen Konstantinopel und Moskau im 20. Jahrhundert, jener Leiden, an die heute niemand so gern denkt, weil sie als nicht "passend" empfunden werden?
Man muss sich bewusst machen, was 1920 in den Kernbereichen der Orthodoxie - im Russischen Reich und im Osmanischen Reich - im Gang war: In beiden Staatsgebilden war 1920 schon fühlbar, aber noch nicht entschieden, dass die gesamte kirchliche Struktur zerstört werden würde. Drei, vier Jahre später war die Zerstörung der Orthodoxie in beiden Fällen mehr oder minder vollzogene Tatsache. Vielleicht ist die Ökumene, auf die wir heute so stolz sind, auch eine Frucht der Leiden der orthodoxen Christen zwischen Konstantinopel und Moskau im 20. Jahrhundert, jener Leiden, an die heute niemand so gern denkt, weil sie als nicht "passend" empfunden werden?
Vieles ist aufgearbeitet worden, aber immer noch trennt so manches die katholischen, reformatorischen, orthodoxen Christen. Wird wirklich darüber geredet, offen und mit "dem Freimut des Evangeliums"? Viele haben den Eindruck, dass der ökumenische Dialog "schwächelt". Man blendet aus, was erreicht worden ist, schiebt beiseite, was noch trennt, und stürzt sich lieber auf die "konfessionelle Profilierung", die nur den ohnehin schon "Hundertprozentigen" der eigenen Herde Freude macht.
PROF. ERICH LEITENBERGER