Kirchenaustritte: Zulehner-Studie zeigt Hintergründe
Skandale sind Beschleuniger. Die tiefere Ursache liege in einem tiefen kulturellen Wandel: Religion sei heute immer weniger "Schicksal", sondern immer mehr "Wahl"
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Pastoraltheologe Paul Zulehner |
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Wien (KAP) Die heuer extrem hohen Kirchenaustrittszahlen "sind nur zu einem Teil hausgemacht". Skandale rund um bestimmte Personen oder Anlassfälle sind laut dem Wiener Pastoraltheologen und Religionssoziologen Prof. Paul M. Zulehner mehr "Beschleuniger" als letzte Austrittsursache. Die tiefere Ursache liege in einem tiefen kulturellen Wandel: Religion sei heute immer weniger "Schicksal", sondern immer mehr "Wahl", verwies Zulehner auf Einsichten, die schon der bekannte Soziologe Peter L. Berger formuliert habe. Die seit Jahrzehnten währende Entwicklung, dass fehlende Kirchenbindung immer weniger mit äußerlichen Nachteilen für sich selber oder seine Kinder verknüpft ist, schlage sich auch in der Studie "Religion im Leben der ÖsterreicherInnen 1970-2010" nieder, so Zulehner.
Die jüngste Etappe dieser repräsentativen Langzeitstudie sei nach dem Aufkommen der Missbrauchskrise im Sommer 2010 erfolgt, die Ergebnisse seien noch in Auswertung. Unter den Befragten waren laut Zulehner auch 300 Personen, die aus der katholischen Kirche ausgetreten waren. Einige der bisher noch unveröffentlichten Daten aus der Religionsstudie 2010 stellte der Wiener Theologe nach den von Kardinal Schönborn genannten 80.000 zu befürchtenden Kirchenaustritten im Jahr 2010 auf seine Homepage www.zulehner.org (Zeitworte).
Demnach dachte jedes dritte Kirchenmitglied (32 Prozent) in Österreich bereits an einen Austritt - egal ob katholisch oder evangelisch. Von den katholischen "Überlegern" seien 13 Prozent entschlossen auszutreten. 44 Prozent hätten sich dafür entschieden zu bleiben. Weitere 44 Prozent jedoch sind laut Zulehner noch im "Austrittsstandby", sie haben noch keine Entscheidung getroffen.
Überwiegen Irritationen oder Gratifikationen?
Eine Rolle spielten dabei "Irritationen" - Zulehner nannte vordergründig Skandale und Personen, tiefer liegend "klerikalen Machtgebrauch", Umgang mit (Homo-)Sexualität sowie mit den Frauen; andererseits gehe es beim Bleiben oder Austreten um "Gratifikationen" wie Rituale an Lebenswenden wie Geburt, Tod und Heirat, aber auch jahreszeitliche Übergänge wie Weihnachten. "Bindend ist, wenn sich die Kirche Gedanken über Gott und über den Tod macht", erläuterte Zulehner. Ein Drittel suche das seelsorgliche Gespräch mit einem Priester bzw. einer Pastorin/einem Pastor. Für manche sei es "wichtig, dass sie auch dann in der Kirche ein Heimatgefühl erleben, wenn sie zweifeln". Bindend wirke weiters, dass sich die Kirche in ihren diakonalen Einrichtungen um Arme und Bedürftige kümmert. "Einmischung in die alltägliche Politik zählt weniger dazu", wies Zulehner hin.
Jedes zweite Kirchenmitglied (48 Prozent) spürt laut der Studie wenige Gratifikationen und dafür starke Irritationen. Genau diese Konstellation begünstige Kirchenaustritte in hohem Maß: In dieser Gruppe habe schon jeder zweite an Austritt gedacht. Umgekehrt gebe es nur eine sehr kleine - und kaum austrittsbereite - Gruppe (4 Prozent der Kirchenmitglieder), die hohe Gratifikationen und kaum Irritationen erfährt.
Das Hauptproblem der Kirchen sind nach der Analyse Zulehners nicht so sehr Irritationen wie die z.B. Missbrauchsfälle oder unliebsame Bischofsernennungen, "sondern labil ist die Kirchenmitgliedschaft auf Grund der fehlenden Bindungskräfte bei mindestens der Hälfte der Mitglieder".
Protestaustritte sind eher revidierbar
Unter den Kirchenaustritten des letzten Jahres seien nicht wenige rasche Protestaustritte gewesen, die manchmal bis in den Binnenbereich der Kirche hineinreichen, so Zulehner weiter. Das sei daran ersichtlich, dass nicht wenige von diesen "unter bestimmten Umständen einen Wiedereintritt für möglich halten" (30-44 Prozent). Wer hingegen schon länger als zwei Jahre schon weg ist, sei weit schwerer wieder für die Kirche zu gewinnen (12-14 Prozent).
Den Verantwortungsträgern der Kirchen rät Zulehner sich zu überlegen, wie sie einerseits Irritationen vermeiden können. Die in nächster Zeit anstehenden Bischofsernennungen in Feldkirch, Graz und Salzburg gelte es z.B. "mit höchster Sorgfalt" zu gestalten.
Zugleich bräuchten die Kirchen Zeit, um mit ihren vielen nur schwach gebundenen Mitgliedern "in eine bindungsmehrende Begegnung zu treten". Derartige Kontakte mit wenig gebundenen Kirchenmitgliedern sind - wie Zulehner weiß - nicht leicht zu organisieren. Vor allem seien jene Begegnungen zu nützen, bei denen auch bindungsgeschwächte Personen die Kirche von sich aus aufsuchen: Lebenswenden oder seelsorgliche Nöte. Dies verlange nach ehren- und hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die gut ausgebildet sind und Zeit haben. "Erstaunlicher Weise suchen gerade Personen, die innerlich weit weg vom kirchlichen Leben sind, in solchen Situation einen Priester", führte Zulehner aus. Nicht nur von der "fragwürdigen Ausdünnung der Eucharistiefeier in der katholischen Kirche", sondern auch vom Bedarf der Menschen nach Seelsorge her werde die katholische Kirche nicht herumkommen darüber nachzudenken, wie sie die Anzahl ihrer Priester vermehren kann.
"Modern und zugleich Christ sein"
Einzelne Diözesen investierten derzeit viel Energie in gute, aber pfarrlich zu wenig verankerte missionarische Aktivitäten, die zudem primär "jene bekehren, die schon bekehrt sind". Was es aber nach Einschätzung des Pastoraltheologen in der Stadt Wien braucht, wären offene Begegnungen mit Ausgetretenen, wo sie sich nicht fremd, sondern beheimatet fühlen können, "dadurch ihr angeschlagenes kirchliches Wir-Gefühl stärken" und neue Bindungskräfte wachsen können. Die Kirche müsse den Menschen das Gefühl geben, dass man modern und zugleich Christ sein kann.
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