Suizidprävention: Globale Ausnahmesituation aktiviert neue Ängste
Die aktuelle "globale Ausnahmesituation" kann neue Ängste aktivieren und vergangene Traumata wieder an die Oberfläche befördern. Darauf hat die "TelefonSeelsorge OÖ - Notruf 142" am Freitag in Linz in einer Pressekonferenz anlässlich des Weltsuizidpräventionstags am 10. September aufmerksam gemacht. So sei die Zahl derer, die sich zum Beratungsgespräch per Telefon und Chat an die Telefonseelsorge gewendet haben, zwischen Ende Februar und Anfang September "massiv angestiegen", berichtete Silvia Breitwieser, Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ.
Die gegenwärtige Lage mache die eigene, aber auch die gesamtgesellschaftliche Vulnerabilität besonders spürbar und bewirke bei vielen eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit. Besonders Menschen in prekären Lebenssituationen, einsame oder psychisch erkrankte Personen, sowie Jugendliche und junge Erwachsene stünden am Rande ihrer Belastbarkeit. "Sehr oft ging es dabei um Überforderung, existenzielle Nöte, Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängste. Viele Anruferinnen und Anrufer befanden sich in einer extremen Krisensituation und äußerten Suizidgedanken", so Breitwieser.
"Suizidgefährdete Menschen brauchen ein offenes Ohr", erklärte Breitwieser; das wichtigste sei, zu reden. Eine Kontaktaufnahme stehe meistens ein Stück im Widerspruch zur Selbsttötungsabsicht. Das Bedürfnis sei groß, über die bedrückenden Gefühle und die als ausweglos empfundene Situation zu sprechen und mit allem Belastenden nicht allein zu sein, so die Expertin.
Ein Teil der Suizide werde direkt oder indirekt angekündigt, erklärte Klemens Hafner-Hanner von der Familienberatung der Diözese Linz "beziehungleben.at". Sätze wie "Ich wäre froh, wenn alles vorbei wäre" oder "Am liebsten würde ich einschlafen und nicht mehr aufwachen" seien ein deutliches Zeichen. "Manchmal fallen solche Sätze zwischendurch. Es hilft hier, die Suizidgedanken anzusprechen, auf die Person einzugehen, und Beziehung und Vertrauen zu schaffen", so Hafner-Hanner.
Aktiv werden und Hoffnung schaffen
In die gleiche Kerbe schlug auch Thomas Niederkrotenthaler, stv. Leiter der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin an der Medizinischen Universität Wien: "Das Motto des heurigen Welttags ist 'Aktiv werden und Hoffnung schaffen'. Das bedeutet, dass jeder und jede von uns eine wichtige Rolle dabei hat, aktiv Stigmatisierung von Suizidgedanken abzubauen." Der Experte betonte zudem die Rolle der Medien: "Hier ist es von größter Relevanz, das Thema Suizid adäquat und in seiner Komplexität aufzuzeigen, auf spekulative oder einfache Erklärungen für Suizid zu verzichten und über Präventionsangebote zu berichten."
Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Referentin der TelefonSeelsorge OÖ, betonte die Wichtigkeit der Telefonseelsorge als "erste Ansprechpartnerin in Krisensituationen". "Der vertrauliche Charakter des Notrufdienstes macht es möglich, dass Menschen über ihre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit reden, die aus Scham, Schuldgefühlen, Mutlosigkeit oder Angst vor Unverständnis in ihrem Beziehungsnetz nicht angesprochen werden."
Am Telefon und im Chat gelte es erst einmal, ruhig zu bleiben, den Schmerz und das Leid mit auszuhalten und nicht zu beschönigen oder wegzureden. "Die Beratenden helfen in der Rolle eines mitfühlenden Zeugen dabei, über belastende Erfahrungen und widrige Lebensumstände zu sprechen. Suizidgedanken können offen und direkt thematisiert werden - ohne Bewertung bzw. Stigmatisierung", so Lanzerstorfer-Holzner. "Ziel ist es, in eine hoch angespannte Situation etwas Abstand, Ruhe und Klarheit zu bringen - den Schmerz teilen. Es gehe um eine Krisenintervention "mit warmem Herz, klarer Sprache und ruhiger Sachlichkeit".
Behutsames Ansprechen entlastet
Mehr Aufmerksamkeit für Menschen, die an Suizid denken, forderte auch die steirischen Telefonseelsorge am Freitag in einer Aussendung. "Nachzufragen, ob jemand an Suizid denkt, bringt niemanden auf die Idee, sich das Leben zu nehmen - im Gegenteil! Ein behutsames Ansprechen kann Menschen sogar entlasten", betonte Daniela Bauer, Leiterin der Telefonseelsorge Graz. Jährlich sterben in Österreich mehr als 1.000 Menschen durch Suizid, "das sind drei Mal mehr Tote als im Straßenverkehr", so Bauer.
Bei 14- bis 20-Jährigen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache, während Suizid in der Altersgruppe 25 bis 29 sogar die häufigste ist. Doch auch die Zahl der Alterssuizide steige, da sich Menschen im Alter immer einsamer und weniger gebraucht fühlen, betonte die Grazer Telefonseelsorge-Leiterin. Allein in der Steiermark konnten die rund 90 Mitarbeitenden in über 16.000 Gesprächen Menschen beistehen, berichtete Bauer. "Dennoch braucht es die Achtsamkeit von uns Mitmenschen, dass wir auf jene zugehen, denen es nicht gut geht."
Die Telefonseelsorge ist unter der Nummer 142 rund um die Uhr, aus ganz Österreich kostenlos, ohne Vorwahl erreichbar - ebenso die Mail- und Chatberatung, welche täglich ab 16:00 Uhr unter www.onlineberatung-telefonseelsorge.at erreichbar ist.
(S E R V I C E - Sie sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr und gebührenfrei unter der Notrufnummer 142 erreichbar sowie unter www.telefonseelsorge.at. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums unter www.suizid-praevention.gv.at.)
Quelle: kathpress