Aktuelle Krisensituation fordert christliches Zeugnis
Wenn die Welt - einem oft gehörten Topos folgend - "aus den Fugen" ist, so braucht es umso mehr Menschen, die sich nicht in Aggression oder Depression flüchten, sondern die "tätige Hoffnung" üben und "weltweite Solidarität" zeigen: Das hat der emeritierte Grazer Bischof Egon Kapellari am 7. August in seiner Predigt beim Abschlussgottesdienst zu den Salzburger Hochschulwochen 2016 betont. Damit die gegenwärtige Krise mit ihren vielfältigen Bedrohungsszenarien vielleicht gar die "Chance zu einer Erneuerung" wahre, brauche es nicht zuletzt das Glaubenszeugnis von Christen, die auf Gott setzen, so Kapellari im Salzburger Dom. Kathpress dokumentiert im Folgenden den vollen Wortlaut der Predigt:
Liebe hier versammelte Christen, Brüder und Schwestern! In den Reisetagebüchern des großen französischen Schriftstellers Albert Camus finden sich auch Eintragungen über einen Besuch in Salzburg in einer Zeit, als diese Stadt noch nicht zu ihrer heutigen touristischen Betriebsamkeit und zu ihrem heutigen weltweit herausragenden kulturellen Niveau erwacht war. Camus schrieb, offenbar von seiner damaligen Herberge, dem Hotel Stein am anderen Salzach-Ufer aus: "Salzburg wäre friedlich ohne Mozart. Aber dann und wann eilt über die Salzach der hochmütige stolze Schrei des Don Juan, der in die Hölle stürzt."
Ein anderer Ruf als der Schrei des zur Hölle stürzenden Don Giovanni aus der Felsenreitschule, den Camus gehört hatte, verbreitet sich alljährlich vorn Platz vor dem Salzburger Dom aus in die Salzburger Innenstadt. Es ist der durchdringende Ruf des Todes an den reichen Jedermann im Rahmen des gleichnamigen, von Kritikern manchmal klein- oder gar totgeredeten Mysterienspiels von Hugo von Hofmannsthal. Auch eine solche manchmal hilfreiche Kritik hat wohl dazu beigetragen, dass dieses Mysterienspiel bis heute immer wieder seine Relevanz erweisen konnte. Der Tod ruft im Auftrag Gottes den Jedermann zur Rechenschaft über sein durch Gier zur Maßlosigkeit verkommenes Leben. In diese Jedermann-Geschichte sind paradigmatisch große Themen eingeflochten, die über jeden Epochenwechsel hinaus das menschliche Leben prägen und daher unverzichtbar ebenso der Kirche und allen anderen religiösen Gemeinschaften wie der sogenannten Zivilgesellschaft aufgegeben sind. Es sind Themen wie Leben und Tod, Gerechtigkeit und Unrecht, Schuld und Sühne, Schönheit und Schrecken.
Wir feiern diesen Sonntagsgottesdienst zum Abschluss der diesjährigen Salzburger Hochschulwoche. Diese renommierte akademische Institution hat sich in den vielen Jahren ihres bisherigen Bestehens immer mit großen Themen und Fragen der Kirche und der Gesellschaft im Ganzen befasst. Im heurigen Jahr ging es um das Thema "Leidenschaften" im weiten Bogen zwischen einer Leben fördernden Vitalität einerseits und zerstörerischen Kräften andererseits, die weltweit zwar immer vielerorts am Werk sind, die aber in Gestalt eines mörderischen Terrorismus in den jüngsten Wochen und Tagen besonders Frankreich und Deutschland erschüttert haben und die uns alle gemeinsam betreffen und herausfordern.
"Was ist die Uhr, Horatio?", so fragt in einer Schlüsselszene des Hamlet-Dramas von Shakespeare der Prinz von Dänemark kurz vor Mitternacht seinen Freund Horatio. Daran habe ich manchmal in Predigten am Beginn eines neuen Jahres erinnert und dies vertiefend die viel ältere Frage "Wächter, wie lang noch die Nacht?" aus dem Isaiasbuch der Bibel hinzugefügt. Sie richtet sich an einen Wächter inmitten seiner Stadt und er antwortet: "Es kommt der Morgen, es kommt auch die Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt wieder". In weniger erhabener Formulierung lautet diese situations- und epochenbezogene Frage einfach: "Wie spät ist es auf der Uhr der Welt und auf der Uhr der Kirche?" Wir kennen immer nur Fragmente einer Antwort, aber fragen und suchen müssen wir, sonst werden wir in einer wichtigen Dimension unserer Existenz stumpf und stumm.
Die leider schon vor Jahrzehnten eingestellte österreichische Zeitschrift "Wort und Wahrheit" hat zehn Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil eine Reihe von markanten Persönlichkeiten über den damaligen Zustand der Kirche nach der allgemeinen Euphorie über dieses Konzil befragt. Heinrich Schlier, ein angesehener Exeget des Neuen Testaments an der Universität Bonn und Konvertit zur katholischen Kirche, hat darauf ebenso nüchtern wie fromm geantwortet, indem er sagte: "Nur ein Prophet könnte wissen, wie es um die Kirche wirklich steht". Was Schlier damals gesagt hat, gilt trotz aller Veränderungen auch heute, denn das profundeste Wissen über die aktuelle Stärke und Schwäche der Kirche und der Christenheit überhaupt inmitten der Menschheit erschließt sich nur einem ebenso nüchternen wie liebenden Blick mit den Augen des Glaubens.
Die heutigen Versuche zu einer Diagnose von Gesellschaft und Kirche erlauben jedenfalls keine bequeme Beruhigung. Generaldiagnostisch wird dabei am häufigsten das Wort Krise in Anspruch genommen, ein Wort mit keineswegs nur negativer Bedeutung. Krisen können ja auch Chancen zu einer Erneuerung sein. "Die Welt ist aus den Fugen" - so oder ähnlich lauteten in den letzten Wochen Schlagzeilen in Printmedien, Hörfunk und Fernsehen betreffend die Zukunft Europas und der Europäischen Union zumal auch in Bezug auf Migration und Integration von Migranten, aber auch betreffend die Instabilität im Nahen und im Mittleren Osten und in Afrika. Mit den meisten dieser Themen ist das Thema Islam besonders verbunden.
All das führt einerseits bei vielen Menschen, auch Christen, zu Furcht, Aggression oder Depression. Andererseits mobilisiert es Kräfte zu einer tätigen Hoffnung und weltweiten Solidarität inmitten der Menschheit und besonders auch der Christenheit. Papst Franziskus ist dafür eine starke Kraft und eine unüberhörbar prophetische Stimme angesichts des weltweiten Panoramas von Gefahren und Ängsten. Und Benedikt, der Papst emeritus, hat als herausragender Hirte und Theologe nach Art eines biblischen Weisheitslehrers epochendiagnostisch, kirchendiagnostisch und Wege weisend Fundamentales gesagt und getan, das wie ein Sauerteig weiterhin wirksam ist und bleiben wird.
An ein leises Wort des Dichters Hölderlin sollten wir uns gerade jetzt wieder erinnern. Er hat es in dürftiger Zeit als ein Trostwort an den Anfang seiner Patmos-Hymne gesetzt. Es lautet: "Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Der Gott, von dem da die Rede ist, war für Hölderlin nicht einfach der biblische Gott, aber in vielem doch auch der Gott der Bibel.
Der Gott der Bibel ist nicht ein harmlos lieber Gott, als den ihn manche kirchliche Verkündigung heute wohlmeinend darstellt. Der Gott der biblischen Erzväter und Erzmütter, von denen die Lesung der heutigen Eucharistiefeier, genommen aus dem Hebräerbrief, erzählt ist auch ein verborgener, ein rätselhafter Gott, der sein Volk durch Nacht und Wüste und dann wieder in ein Gelobtes Land führt. In seiner tiefsten Tiefe ist er aber Liebe, die sich in seinem Sohn Jesus Christus als gekreuzigte und auferstanden siegreiche Liebe ein für allemal offenbart hat. Ein Wort aus dem Ersten Johannesbrief des Neuen Testaments sagt dies in lapidarer Kürze aus: "Gott ist Liebe - Deus caritas est - Theos agape estin".
Vor vielen Türen in Europa ist Gott heute ein Fremder und sein Name ist für manche nur ein Wort mit vier Buchstaben oder ein anderer Name für Evolution. Aber Gott, der biblische Gott, ist auch in Europa millionenfach präsent im Herzen und im Leben unzähliger Christen und ihrer Gemeinschaften. Stellvertretend für sie kann das edle Antlitz des 85-jährigen französischen Priesters Jacques Hamel betrachtet werden, der vor kurzem in seiner Kirche nahe der Stadt Rouen während des Gottesdienstes auf schreckliche Weise ermordet worden ist. Bis dahin war er eine nur wenigen Menschen bekannte Ikone Jesu Christi. Nun aber ist sein Bild durch Medien weltweit bekannt geworden. Er war, er ist ein Mann der Kirche, die zwar immer viele Runzeln, viele Fehler hat, die sich aber einem vertieften Blick immer wieder, und so auch heute, als schön weil gut gezeigt hat und zeigt. Diese Schönheit ist ein Abglanz der Schönheit Gottes, über die der edle Moslem Navid Kermani, im vergangenen Jahr Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, berührend gesprochen und geschrieben hat.
Gott ist, so sagt der christliche Glaube, gut und schön in einem. Von Dostojewski, der das Grauen eines sibirischen Straflagers überlebt hat, ist das unauslotbare Wort "Das Schöne wird die Weit retten" gesagt worden. Gemeint war und bleibt damit zutiefst wohl die Schönheit der gekreuzigten und auferstandenen Liebe Jesu Christi, aber darüber hinaus gewiss auch die Schönheit in Natur und einer Kunst, die nicht narzisstisch in sich selbst verkapselt ist.
In Salzburg, einer der weltweit schönsten Städte, hat besonders die Kirche mit ihren Bischöfen Schönes geschaffen und hinterlassen, in der Zeit des Barock freilich auch in manchem dissoziiert vom Geist des Evangeliums. Diese Epoche ist hier längst vorüber. Aber das wirklich Schöne, ob alt oder neu, hat ein bleibendes Heimatrecht in der Kirche und darf nicht durch materiell soziale Diakonie verdrängt werden. "Von Sion geht aus der schöne Glanz Gottes", sagt ein biblischer Psalm. Auch von der Kirche geht über allen Wechsel der Epochen hinaus ein solcher Glanz aus vor allem als Güte, als Barmherzigkeit, die hilft, auch wenn es schon weh tut. Glanz aber auch von ihrer Liturgie, wenn sie wirklich als Mysterium gefeiert wird, ob in Gestalt edler Einfachheit oder in ererbter festlicher Schönheit. Sie ist dann als Musik ein "praeludium vitae aeternae" und als Werk bildender Kunst eine "praefiguratio vitae aeternae", ein Stück von wiedergefundenem Paradies, "paradise regained". Dafür können wir auch bei diesem festlichen Gottesdienst danken.