
Zulehner für kirchliches Gegengewicht zur "Politik der Angst"
Die Kirche kann und soll der um sich greifenden "Politik der Angst" in der Flüchtlingsfrage ein Gegengewicht entgegensetzen: Das hat der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner in einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" unterstrichen. Eine von ihm durchgeführte Online-Umfrage zum Flüchtlingsthema habe ergeben, dass der in der heutigen Diesseitskultur häufige Zwang, alle Glückserwartungen in der kurzen Lebenszeit erfüllen zu müssen, derzeit ergänzt werde durch die Angst vieler vor sozialem Abstieg. In dieser Situation brauche es eine "Politik, die auf Solidarität setzt und nicht auf Entsolidarisierung", betonte Zulehner.
Seit der Finanzkrise haben sich nach den Erkenntnissen des Wiener Werteforschers vor allem bei Menschen der unteren Mittelschicht Existenzängste deutlich verstärkt: Sie fürchteten, den Arbeitsplatz zu verlieren, weil die Wirtschaft die Flüchtlinge über Lohndumping bevorzugt und es noch mehr Konkurrenz gibt. "Je stärker das Potenzial der Angst im Menschen ist, umso eher neigt er schutzsuchenden Menschen gegenüber zu Ärger, zu Abwehr. Wenn es jemand ganz auf die Spitze treibt, neigt er zu Hass und auch zu Gewalt", sagte Zulehner. Demgegenüber gelte: "Wenn die Angst relativ klein ist, die Zuversicht und das Vertrauen größer werden können, dann sind Menschen zu einer belastbaren Solidarität fähig" und setzen sich in NGOs und Pfarrgemeinden ein.
Eine solche praktizierte Nächstenliebe brauche die Stützung durch die Politik. Zulehner erinnerte an den US-Präsidenten Roosevelt, der 1933 nach der großen Weltwirtschaftskrise sagte: "Das Einzige, was wir wirklich fürchten müssen, ist die Angst selbst." Der Theologe sieht es als "eine der ganz großen Gefahren in der Politik" an, dass nach dem Muster agiert wird: "Wir müssen das eigene Land so sehr schützen, und wir müssen die Ängste der Leute so sehr berücksichtigen, dass wir eigentlich nicht mehr in der Lage sind, eine solidarische Politik zu machen, sondern eine Politik der Angst betreiben." Wenn die österreichische Regierung nun ein Bekenntnis zur "Festung Europa" ablege, ist dies nach der Überzeugung Zulehners weder praktikabel noch zielführend.
Was die Kirche in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise tun können, konkretisierte er an den Beispielen zweier niederösterreichischer Gemeinden: In Probstdorf, wo der frühere Caritas-Präsident Helmut Schüller Pfarrer ist, leben 40 Flüchtlinge in Containern hinter dem Pfarrhof, hauptverantwortlich betreut von einem 22-jährigen BWL-Studenten mit Hilfe der Jugend- und der Firmgruppe. Zulehner: "Wo immer Kirchen- und Pfarrgemeinden anfangen, sich der Flüchtlingsfrage zu stellen, kommen auch junge Menschen wieder" und würden dort "das Evangelium praktizieren".
In Stockerau wiederum kümmerten sich im dortigen Integrationshaus die evangelische Diakonie, der Vorsitzende des Moscheevereins und die katholische Pfarrgemeinde gemeinsam um afghanische Flüchtlinge. Zulehner bezeichnete es als kirchliche Stärke, "dass wir mit unserem Pfarrsystem ein lückenloses Netzwerk diakonalen Hinschauens besitzen".
Stärkung des eigenen Glaubens gegen Islam-Angst
Auf die Frage, ob eine Aufgabe der Kirche die Heilung von der Angst sei, antwortete Zulehner: "Ja, von jener Angst zu heilen, die uns hindert zu glauben und zu lieben." Manche Christen würden deswegen den Islam fürchten, "weil das Christentum in Europa so schwach ist". Die "einzige richtige Antwort" auf eine angstbesetzte Anti-Islam-Haltung sei eine Absage an die Gewalt und die Stärkung des eigenen Glaubens.
Nach Zulehners Überzeugung wird es keinen Frieden in der Welt geben ohne den Frieden zwischen den Religionen: "Wir müssen lernen zu sagen, es ist nur eine Welt, es ist nur ein Gott, und der Gott der Muslime ist auch unser Gott. Wenn wir den gemeinsamen Gott haben, dann sind wir eine Familie Gottes, wir sind alle Ebenbilder Gottes." Der Wiener Theologe berichtete von einer ihn sehr berührenden Begegnung mit einer 13-jährigen Afghanin in Stams, wo sie erstmals die Schule besuchen kann. Sie habe aus Spaghetti einen Eiffelturm gebastelt und als Grund dafür genannt: "Ich wollte sagen, dass alle, die Terror in Paris im Namen des Islam gemacht haben, letztlich Verräter Allahs sind und nicht das tun, was Allah uns aufträgt: zu lieben und Erbarmen zu haben."
Quelle: kathpress