Glettler: Der Digitalisierung mit "prophetischer Skepsis" begegnen
Wie sieht ein gesellschaftlich reifer, kritischer Umgang mit dem Prozess stetiger Digitalisierung aus? Wo liegen Chancen, wo Risiken? - Diesen Fragen haben sich die heurigen "Innsbrucker Theologischen Sommertage" am 6./7. September unter dem Titel "Digitalisierung - Religion - Gesellschaft" gewidmet. Es brauche zumindest eine "geistvolle Balance" zwischen einem kritiklosen Beklatschen und einer "Verteufelung" der Digitalisierung, betonte der Tiroler Bischof Hermann Glettler dazu in seinen Grußworten. Der Theologie könne in dieser speziellen Situation die Aufgabe zukommen, "eine prophetische Skepsis gegenüber den technologischen, ökologische, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Versprechungen der Digitalisierung zu formulieren".
Es brauche stets auch die "philosophisch-kritische Hinterfragung, was Digitalisierung mit uns als Menschen macht", und inwiefern sie etwa "unser Verständnis von Leiblichkeit und Geist verändert", so Glettler weiter. Theologie sollte sich daher nicht einfach die ständig wachsenden Möglichkeiten der Digitalisierung zunutze machen, sondern zugleich auf jene "Freiräume" hinweisen, in denen das seinen Ort findet, was den Menschen eigentlich ausmacht: "das uneinlösbare Plus menschlicher Sehnsucht, (...) Freude, Leidenschaft und Verletzlichkeit, (...) Empathie und Solidarität."
Digitale Technik mehr als nur "Tools"
Höhepunkt des ersten Tages war ein Festvortrag des Innsbrucker Theologen Prof. Johannes Hoff über "Theologie nach der digitalen Revolution". Darin zeigte Hoff, der zuletzt zu eben diesem Thema ein Buch bei Herder publiziert hat, auf, dass technische Geräte und somit auch digitale Techniken keineswegs nur "Tools" und Werkzeuge seien, sondern sie durch die Vermengung mit geistigen Strömungen und Ideologien selber eine den Menschen prägende Kraft besäßen, insofern das menschliche Denken und Verstehen den Funktionsweisen von Maschinen immer mehr angleiche.
Insofern sehe er neben dem Verlust der Biodiversität und dem Klimawandel die zweite "große Bedrohung der Menschheit" in einer "digitalen Transformation". Diese bestehe in einer "ökonomisch verursachten und technisch beschleunigten Verwüstung geistiger Vielfalt und dem damit einhergehenden spirituellen Klimawandel", so Hoff. Mögliche Gegenpole würden etwa in der christlichen Spiritualität und in spirituellen Techniken, wie sie schon die Kirchenväter kannten, verborgen liegen, unterstrich der Theologe.
400 Teilnehmer digital dabei
Eröffnet wurde die Tagung, an der coronabedingt nur 25 Personen "live" vor Ort, aber über 400 digital teilnahmen, mit einem Vortrag der Religionspädagogin Anna Kraml über "Chancen digitaler Medien für die theologische Praxis". Kraml blickte dabei auf die universitäre Erfahrung in der Lehre des letzten Jahres zurück. Zum einen sei durch die vermehrte Nutzung von hybriden bzw. digitalen Formaten ein "Leerraum, der Offenheit für Kreativität, Autonomie und Interpretation schafft", entstanden; es brauche aber noch didaktische und pädagogische Konzepte, "um diese Räume effektiv und fruchtbar nutzen zu können".
Der Innsbrucker Bibelwissenschaftler Benedikt Collinet referierte über "Digitale Bibelforschung" und konstatierte: "Die Bibelwissenschaft ist es gewohnt, sich der hermeneutischen und methodischen Möglichkeiten ihrer Zeit zu bedienen". Insofern werde auch auf Möglichkeiten der Digitalisierung zurückgegriffen - allerdings müsse es oberstes Ziel bleiben, die eigentliche Aufgabe nicht aus den Augen zu verlieren: "das Wort Gottes verstehen, verstehbar halten und verkünden", so Collinet, der an der Universität Innsbruck im Rahmen des FWF-Projekts "Karl Rahner und die Bibel" forscht.
Die Bibelwissenschaftler em.Prof. Martin Hasitschka und Mira Stare nahmen dies als Vorlage und referierten über "Die Verkündigung des Evangeliums unter digitalen Voraussetzungen". Dabei betonten sie, dass Digitalisierung auch in der Verkündigungspraxis "eine wertvolle Hilfe" darstellen könne: "Bei dem vielfältigen digitalen Angebot im biblischen Bereich braucht es jedoch ein gutes Unterscheidungsvermögen und ein Gespür für das, was authentisch und zuverlässig ist." Der ebenfalls am Innsbrucker Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie lehrende Prof. Andreas Vonach reflektierte schließlich darauf, wie Gotteserfahrung in Zeiten digitaler Arbeitsprozesse und individualisierter Lebensentwürfe gelingen kann.
Nüchterner Blick auf Pro und Contra nötig
Weitere Vorträge im Rahmen der "Innsbrucker Theologischen Sommertage" betrafen die Themenfelder der Philosophie, der pastoralen Praxis sowie der Kultur. So stellte die an der Universität München lehrende, langjährige Innsbrucker christliche Philosophin Claudia Paganini im Blick auf den Einsatz neuer Medien in Seelsorge und Psychotherapie fest, dass dies nicht unter dem Vorzeichen der Kostenminimierung erfolgen dürfe: "Gerade ein kirchlicher Arbeitgeber sollte nicht ressourcenorientiert seine Mitarbeiter einsparen; vor allem da dies die schwachen Verdiener in der Regel zuerst trifft."
Johannes Brunner vom Institut für Praktische Theologie analysierte das Verhältnis und Nutzungsverhalten Jugendlicher zu den Social Media: "Das Smartphone kann wie der Teddybär dem Menschen helfen und die Funktion erfüllen, im Getrennt- und Alleinsein trotzdem Sicherheit und Verbundenheit zu erfahren." Eine Verurteilung dieser Medien grosso modo bzw. eine in nur in Schwarz-weiß-Mustern denkende Kulturkritik greife daher im Blick auf die Bedeutung der Digitalisierung für Jugendliche deutlich zu kurz. Einen "Verlust der Leiblichkeit" im Zuge grassierender Digitalisierungsschübe konstatierte der christliche Philosoph Daniel Wehinger: Erst die körperliche Wahrnehmung des Gegenübers erlaube auch eine tiefere Selbstwahrnehmung: "Gegenseitiges Gesehen-Werden ermöglicht sichtbare Reaktion und wir erfahren: Ich bin jemand, ich bin ein Teil der Welt, ich bin sichtbar."
Genuin Menschliches nicht ersetzen
Enrico Grube vom Innsbrucker Institut für Systematische Theologie warnte vor einer kritiklosen Nutzbarmachung aller Möglichkeiten der Digitalisierung. Es bedürfe eines "Aktes der Distanzierung", so der Theologe, um die Maschinen "nicht zum Ersatz des genuin Menschlichen werden zu lassen". Auf die Herausforderungen der Robotertechnik und der Notwendigkeit einer eigenen Ethik für künstliche Intelligenzen verwies schließlich die Germanistin Claudia Gerstl.
Der Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät, Prof. Wilhelm Guggenberger, ging in seinem Vortrag der Frage nach, was den Menschen eigentlich daran fasziniert, Maschinen zu erschaffen, die ihm irgendwann ebenbürtig oder gar überlegen sein werden. Der Grund dafür liege seit jeher in einer Unfähigkeit des Menschen, "nicht fähig zu sein zu empfangen, sich nicht selbst als Geschenk zu begreifen". Mit dem "Streben nach Perfektion" versuche der Mensch, sein Scheitern vor sich selbst zu verbergen, so der Theologe.
"Es gibt keine Sakramente im Internet"
Abschließend referierte der Innsbrucker Kirchenrechtler Prof. Wilhelm Rees zur Frage, ob das Kirchenrecht eine "Digitalisierung der pastoralen Praxis" zulässt. Die Antwort: Ja, natürlich - mehr noch: Die Kirche müsse alle Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, um Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten zu erreichen. Insofern fördere die Digitalisierung "das Priestertum aller Getauften, da sie es leichter mache, sich als einzelner Gläubiger verantwortungsvoll einzubringen", so Rees. Die Pandemie habe diesbezüglich zu einem kirchlichen Digitalisierungs- und Innovationsschub geführt.
Die Grenze der Sakramentenspendung indes könne durch Digitalisierung nicht überschritten werden, mahnte Rees: "Es gibt keine Sakramente im Internet, da dort die religiöse Erfahrung ungenügend ist und die Beziehung zu den anderen fehlt." Virtuelle Realität sei "kein Ersatz für die Gegenwart Christi im Sakrament und im gemeinsamen Gottesdienst in menschlicher Gemeinschaft."
Quelle: kathpress