Schönborn: Das Gespür für das Religiöse ist nicht verschwunden
Das Gespür für das Religiöse ist auch in einer von Säkularisierung und Konsumismus geprägten Zeit nicht verschwunden. Diese Überzeugung äußerte Kardinal Christoph Schönborn am Heiligen Abend im Interview von "Kleiner Zeitung" und "Kurier". Die Menschen seien für den Kern des Weihnachtsfestes empfänglich, auch wenn viele diesen Kern kaum mehr kennen würden. "Wenn man den Straßenumfragen glaubt, was zu Weihnachten eigentlich gefeiert wird, ist da sehr viel Ratlosigkeit und Unwissenheit", wies Schönborn hin. Er selbst umschrieb das, was es am Heiligen Abend zu feiern gibt, mit den Worten: "Gott wollte unter uns Menschen sein. Dort, wo Krisen sind, ist er solidarisch mit denen, die diese Krisen erleiden."
Der Kirchgang nicht nur zu Weihnachten, sondern an jedem Sonntag sei für Katholiken wie Protestanten jahrhundertelang selbstverständlich gewesen, erinnerte der Wiener Erzbischof. "Das ist vorbei", aber "das zutiefst im Menschen sitzende Bedürfnis nach Transzendenz ist nicht wegzubringen". Schönborn sieht die Kirche vor die Herausforderung gestellt, "die Frohe Botschaft neu zu verkünden. Damit das gelingt, muss sie allerdings erst bei uns selber neu ankommen." Das christlich Codierte sei nicht weg. "Aber es muss neu buchstabiert werden."
Weihnachten passt zu Krisenzeit
Angesprochen auf die heute so dramatischen Krisen mit Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, Teuerung, Polarisierung in Politik und Gesellschaft, merkte der Kardinal lapidar an: "Die Weihnachtsbotschaft ist dort angekommen, wo sie ihren Platz hat, nämlich in einer Krisenzeit." Palästina sei auch zur Zeit Jesu "alles eher als gemütlich" gewesen. Die Umstände seiner Geburt, die Flucht seiner Eltern nach Ägypten - "das sind alles Dinge, die wir ausblenden, weil wir Weihnachten als das liebliche Fest feiern. Aber die Realität war nicht wesentlich anders als heute."
Zum Kitsch rund um das Fest erzählte der Wiener Erzbischof ein Erlebnis, das er vor vielen Jahren mit zwei anderen Dominikanern in einem Slum von Manila hatte. Bei der Feier der Christmette dort stand neben ihm ein Mädchen mit Engelsflügeln aus Plastik. "Plötzlich hat der eine Flügel an einer Kerze Feuer gefangen. Die Aufregung war groß! Danach sind wir von diesen armen Leuten mit einem Festessen bewirtet worden. Ja, Kitsch, aber sehr echt. Hinter dem Kitsch steckt sehr oft ein echtes Gefühl."
Worum es dem Papst geht
Hat Papst Franziskus mit der Weltsynode über Synodalität nicht Erwartungen geweckt, die nun zwangsläufig enttäuscht werden, lautete eine weitere Frage der Interviewer. Dazu Schönborn. "Franziskus hat immer wieder deutlich gemacht, dass es in dieser Synode nicht primär um diese oder jene Entscheidung geht. Worum es geht, das ist ein Kulturwandel." Die Kirchen in Europa müssten insgesamt "aus unserer Selbstbezogenheit herauskommen", sagte Schönborn.
Man sollte besser hinhören, was Franziskus wirklich bewegt, riet er: "Hat man verstanden, warum er seine erste Reise in Italien auf die Insel Lampedusa gemacht hat?" Den europäischen Bischöfen sei es bis heute nicht gelungen, eine gemeinsame Stellungnahme zur Migration zu formulieren. Aber vom Papst sei man enttäuscht, weil man nicht die eigene Agenda verwirklicht sieht. Schönborn weiter: "Die Frage, ob die Priester heiraten dürfen oder nicht, ist - Pardon - nicht die Frage, die die Menschheit am meisten bewegt." Das Engagement von Franziskus für Klimagerechtigkeit und eine Wirtschaft, die nicht tötet, seine Option für die Flüchtlinge und deren Not - "das sind die Prioritäten, um die es in der heutigen Welt wirklich geht".
Quelle: kathpress