
Zulehner: "Gewohnheitschristentum" gehört der Vergangenheit an
Ein "Gewohnheits- oder Brauchtumschristentum", wie es vor Corona noch beobachtbar war, gehört der Vergangenheit an. Das hat der Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul Zulehner in der "Kleinen Zeitung" (Donnerstag-Ausgabe) mit Blick auf die Katholikenzahlen betont. Entsprechend dürfte die Zahl der Kirchenmitglieder in den kommenden Jahren weiter abnehmen. War Religion früher "Schicksal", so sei sie jetzt "Entscheidung". Deshalb müsse Religion heute Anziehungskraft haben, um angenommen zu werden, so der Theologe.
"Die Kirchen stehen also vor der großen Aufgabe, den Menschen zu zeigen, dass das Evangelium für das eigene Leben wichtig sein kann, dem Leben guttut", unterstrich Zulehner. Besonders gefordert sah er die Kirchen bei jungen Menschen. Nur fünf bis zehn Prozent haben eine starke Kirchenbindung.
Doch es gebe auch das Bedürfnis der Menschen, bei Geburt, Heirat oder Tod Kontakt mit der Kirche aufzunehmen. Das zeige, dass sie ein "tiefes religiöses Gespür haben", so Zulehner: "Wir wissen, dass wir nicht alles selbst bestimmen können."
Ähnlich äußerte sich Prof. Zulehner auch im ORF (ZIB2 und "Religion aktuell"). Für die katholische Kirche in Europa werde entscheidend sein, ob sie Menschen überzeugen könne, dass die Inhalte der Kirche ihr Leben bereichern würden.
Es brauche freilich auch eine andere kirchliche Frauenpolitik und die Überwindung des Klerikalismus, griff Zulehner zwei Themen auf, die auch im Rahmen des von Papst Franziskus initiierten Synodalen Prozesses eine Rolle spielten.
Momentan klafften aber Verkündigung und Kirche auf der einen Seite und das Alltagsleben der Menschen und auch das politische Leben auf der anderen Seite zu sehr auseinander. Zulehner: "Wenn es so weitergeht wie bisher werden wir uns auf den biblischen Normalfall einpendeln. Wir werden eine überschaubare Gruppe als Zeichen des Heils in der Welt sei, wir werden Salz in der Weltsuppe sein."
Noch nicht erledigte "Hausaufgaben"
Der Wiener Dompfarrer Anton Faber sagte im ZIB2-Interview, dass jeder Kirchenaustritt schmerze. Er kenne freilich viele Menschen persönlich, die die Teuerungswelle schwer in finanzielle Bedrängnis gebracht habe und bei denen der Austritt und keine Entscheidung gegen Gott gewesen sei. Im Blick auf die kirchlichen Reformdiskussionen meinte der Dompfarrer, dass von der Kirche vor allem erwartet werde, dass sie den Menschen in unsicheren Zeiten eine Stütze sei. Das sei die Hauptaufgabe, freilich gebe es daneben die immer noch nicht erledigten "Hausaufgaben".
"Es ist die Kirchenbindung, die Beziehung zur Kirche, die abnimmt. Das ist ein gesellschaftliches Faktum", analysierte die Linzer Pastoralamtsdirektorin Gabriele Eder-Cakl im Interview mit dem ORF-OÖ. Dieses Phänomen würde derzeit alle großen Organisationen in der Gesellschaft betreffen, so Eder-Cakl. Die Menschen würden zum Beispiel die Hilfsangebote der Kirche, wie etwa Telefonseelsorge oder auch den Erhalt des kulturhistorischen Erbes durch die Kirche durchaus schätzen. Die tatsächliche Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche sei für viele damit aber nicht mehr direkt verbunden.
Weil der Mitgliederschwund ein beinahe weltweites Phänomen sei, hoffte Eder-Cakl auch auf eine globale Lösung: "Wo alle Diözesen weltweit einbezogen sind und überlegen, wie sie in die Zukunft gehen. Ich hoffe, dass hier einmal ein Start in Richtung einer neuen Kirche ist." Dazu würde neben dem Umgang der Kirche mit Menschen der LGBTQI-Gruppe oder wiederverheirateten Geschiedenen vor allem auch das Thema Frauen in der Kirche gehören. Eder-Cakl, langjährige Pastoralamtsleiterin der Diözese Linz, wird ab März 2023 Direktorin des Österreichischen Pastoralinstitutes (ÖPI).
"Viele kommen gut ohne Religion aus"
In den Salzburger Nachrichten (Donnerstag) analysierte der Grazer Religionswissenschaftler Franz Winter die kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. "Wir haben es hier mit einem grundsätzlichen Bedeutungsverlust traditioneller Religionen zu tun, der schon seit zwei Jahrhunderten in Europa in unterschiedlichster Entwicklung erkennbar ist", so Winter. Was Österreich im Speziellen betrifft, sah Winter eine Art Langzeitwirkung der Missbrauchsskandale Mitte der 1990er-Jahre rund um den damaligen Kardinal Hans Hermann Groër. "Da sind viele Dinge, die schon länger aufgestaut waren."
Ein weiterer Faktor: die Coronapandemie mit all ihren Auswirkungen, die das Alltagsleben von Gläubigen gehörig durcheinanderbrachten. - Leere Kirchen, dafür Online-Gottesdienste, hohe christliche Feiertage, an denen keine Messen zelebriert wurden. "Das war ja quasi eine verordnete Entfernung von der Kirche. Und die Leute haben gemerkt - es geht ohne auch", sagte Winter. Doch diese Art von "Alltagsatheismus" habe es schon vor Corona gegeben: "Viele leben ein Leben ohne Religion, kommen aber trotzdem gut aus."
Zur Frage, wie die Kirche die Menschen wieder zurückgewinnen könne, räumte Winter ein, dass er keine Antwort habe. Die Kirche befände sich derzeit in ganz Europa in keiner beneidenswerten Situation. "Man läge aber völlig falsch, wenn man glaubte, mit der Aufhebung des Zölibats und Frauen im Priesteramt wäre das Problem gelöst", betonte der Religionswissenschaftler. Das Angebot der Kirche sei "zu weit weg von dem, was die Leute suchen - wenn sie überhaupt etwas suchen". Winter sah vor allem bei jenen, die in der Kirche aktiv waren, Resignation und Enttäuschung. Besonders groß sei die Ablehnung bei der jungen Generation, die mit den überholten Strukturen nichts mehr anfangen könne.
Kirchenaustritte hätten aber auch einen finanziellen Aspekt, betonte Winter: "Viele stellen sich die Frage: Warum soll ich für einen Verein zahlen, der mir nichts mehr bringt und auch nichts mehr sagt?" In den 1980er-Jahren habe man bei einem Austritt noch gesellschaftliche Konsequenzen befürchten müssen. "Heute nicht mehr. Die Hemmschwelle, es zu tun, geht gegen null." Es habe diesbezüglich eine Verschiebung stattgefunden: "Wenn damals jemand von sich gesagt hat, er sei tief religiös, hat er Anerkennung erfahren", erinnert sich Winter. Mittlerweile gelte man damit als Sonderling. "Man ist heute leicht irritiert von zu viel Religion - von welcher auch immer."
Die Katholikenzahl in Österreich ist im letzten Jahr erneut zurückgegangen. Demnach gibt es mit Stichtag 31. Dezember 2022 in Österreich 4,73 Millionen Katholiken. 2021 waren es laut amtlicher Statistik der Österreichischen Bischofskonferenz 4,83 Millionen Katholiken. Das entspricht einem Rückgang von 1,96 Prozent. Ein Grund dafür sind gestiegene Kirchenaustritte im vergangenen Jahr. Insgesamt traten 2022 90.808 Personen aus der Katholischen Kirche aus.
Quelle: kathpress