Neuinterpretation von Kirchenmitgliedszahlen
Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner hält eine neue Interpretation der Kirchenmitgliedszahlen für hilfreich. Bisher sei es Gewohnheit, bei den Austrittszahlen "immer von 100 Prozent herunter zu rechnen", sagte er am Dienstag in einem Gespräch mit dem Kölner "domradio". "Das ist eigentlich out, denn das ist die Erinnerung an die alte nachreformatorische Zeit, als alle dabei sein mussten."
Er rechne lieber "von unten nach oben und nicht von oben nach unten". Heute sei es doch "ein Wunder", wenn etwa in Österreich über zwölf Prozent jeden Sonntag in die Kirche kämen. "Wenn ich mir vorstelle, dass die Menschen, die sonntäglich in die Kirche kommen, aus dem Evangelium heraus jedes Mal solidarischer werden, offener für Flüchtlinge, bereiter zu helfen und sich ehrenamtlich einzusetzen, dann wäre das eine sensationelle Sache für das Land", so der katholische Theologe weiter.
Zulehner prophezeite, die Kirchen würden in den nächsten Jahrzehnten weitere Menschen verlieren. Seine Zuversicht sei aber, "dass unter den weniger werdenden Katholiken und Protestanten mehr engagierte und sehr starke Christen sein werden".
Dass heute vermehrt ältere Menschen austreten, ist nach Einschätzung des Pastoraltheologen typisch für diese Generation. Die Älteren von heute hätten "generell zu Institutionen ein gebrochenes und sehr zwiespältiges Verhältnis", sagte der Theologe: "Aber man erwartet, dass die Kirche ihren Job ordentlich macht. Und dann treten sie aus, weil sie für sich selber nicht genügend Gründe haben, dabei zu bleiben", so der Religionssoziologe.
In einer "Kultur der Skepsis und des Suchens" sollten die Kirchen herausfinden, wonach die Menschen suchen. Anders als vor wenigen Jahrzehnten sei Religion heute eine freie Wahl, gab Zulehner weiter zu bedenken. "Die Kirchen haben meiner Ansicht nach noch nicht verstanden, dass man den Leuten bei dieser Wahl das Evangelium so schmackhaft machen muss, dass es für sie attraktiv ist", kritisierte der Wissenschaftler.