Tagung: Säkularisierung bedeutet für Religionen "Krise und Chance"
Sorgt die Säkularisierung westlicher Gesellschaften für eine Entflechtung von religiösen und weltlichen Institutionen und wird "Religion" zunehmend von "Spiritualität" abgelöst? Um diese und andere Fragen rund um die Veränderung der religiösen Landschaft in unseren Breiten ging es bei einer interreligiös besetzten Tagung am Mittwoch im Salzburger Bildungszentrum St. Virgil, veranstaltet von der "Kommission Weltreligionen" der Österreichischen Bischofskonferenz. Die inhaltlichen Beiträge der geladenen Fachleute bestätigten den gewählten Titel "Säkularisierung: Krise und Chance für Religionen", wie aus einem Bericht der Erzdiözese Salzburg hervorgeht.
Laut Markus Ladstätter von der "Kommission Weltreligionen" zeigen Religionsgemeinschaften ambivalente Reaktionen von Religionen auf die zunehmende Säkularisierung: Sie reichten von der Wehmut über den eigenen Bedeutungsverlust über eine Abwehrhaltung bis hin zur "theologischen Wertschätzung der Eigenständigkeit des Säkularen", die bereits das Zweite Vatikanische Konzil als "Autonomie der irdischen Wirklichkeit" ernstgenommen hatte. Die Wandlung der Stellung und Funktion von Religion in der heutigen Gesellschaft ist Ladstätter zufolge ebenfalls mehrdeutig: Sie stehe für Rückgang an messbarer religiöser Praxis, Verlagerung religiöser Aktivitäten in andere Lebensbereiche oder Krise religiöser Institutionen.
Astrid Mattes-Zippenfenig, Professorin für sozialwissenschaftliche Religionsforschung der Universität Wien, untermauerte die gerade im großstädischen Bereich beobachtbare Säkularisierung mit Zahlen. In Wien seien die 31,8 Prozent Katholikinnen und Katholiken bereits kleiner als die Gruppe der Konfessionslosen mit 34,1 Prozent; dazu kommen 14,8 Prozent mit muslimischem Glauben, 11,2 Prozent Orthodoxe und 3,7 Prozent Evangelische. Für Salzburg nannte die Religionsforscherin 57,5 Prozent Katholikinnen/Katholiken, 18,2 Prozent Konfessionslose, 6,5 Prozent Musliminnen/Muslime, 5 Prozent Orthodoxe und 3 Prozent evangelische Gläubige.
Eine bis September 2022 durchgeführte Umfrage zu religiösen Lebenswelten junger Menschen in Wien ergab laut Mattes-Zippenfenig typische Trends wie Zurückhaltung von Minderheitenangehörigen, flexible Praxis innerhalb der Peer-Group und "prekäre Zugehörigkeit" zu Religionsgemeinschaften in Form von "Ja, aber".
Auch Konfessionslose auf der Suche
Mit und ohne Zugehörigkeit zu einer Religion - viele Menschen seien auf der Suche, erklärte Mattes-Zippenfenig. Säkularisierung sei ein historisch beschreibbarer und voranschreitender Prozess, die moderne Angebotsvielfalt fordere heraus. Irrig sei jedoch die Annahme, Religion verschwinde mit und durch Modernisierung ins Private. So zeige sich, dass Religion immer wieder aufs Neue politisiert werde, so die Expertin. Es brauche in der Demokratie eine Wertegrundlage wie Menschenrechte - "und Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht".
Weitere Vortragende brachten bei der Tagung vielfältige Perspektiven aus Christentum, Islam und Buddhismus sowie aus Medien und Ritualbegleitung ein. Der Professor für Systematische Theologie in Gießen, Ansgar Kreutzer, forderte von den Religionen angesichts der Pluralisierung "Sprachfähigkeit" und kritische Zeitgenossenschaft. Es brauche Menschen, die beides sind: kritische Christgläubige sowie kritische Bürgerinnen und Bürger.
Canan Bayram, Politikwissenschafterin und islamische Theologin an der KPH Wien/Krems betonte, auch der Islam sei von Vielfalt geprägt. Es gebe Tendenzen der Säkularisierung ebenso wie starke Religiosität. Viele Muslime würden auf das Konzept "wasatiya". Es soll dabei weder eine Vernachlässigung noch Übertreibung in Glauben, Verhalten und Praxis erfolgen. "Im Mainstream des Islam ist die wasatiya stark verbreitet, viele von uns sind damit aufgewachsen", sagte Bayram.
ORF-Religion zwischen "Inhalt und Quote"
Der hohe Stellenwert der Religion in der Geschichte Österreichs führt laut Barbara Krenn, Leiterin der ORF-Abteilung "Religion und Ethik - multimedial", dazu, den Themen Religion und Ethik per Gesetz im europaweiten Vergleich viel Raum im öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzuräumen. Der ORF biete Interessierten aktuell 17 unterschiedliche Sendungsformate. Auf die sich religiös verändernde Gesellschaft will Krenn mit einer Balance zwischen "Inhalt und Quote" reagieren. Grundsatz sei dabei eine Berichterstattung in "respektvoller Nähe und kritischer Distanz", unabhängig, möglichst ausgewogen und qualitätsvoll statt dem Anspruch, der oder die Schnellste zu sein.
Zu Wort kamen bei der Tagung u.a. auch Daniela Bauer, Leiterin der Telefonseelsorge Graz ("Wir werden angerufen, obwohl wir kirchlich getragen sind") und die Wiener Ritualbegleiterin Doris Gabriel ("Das Bedürfnis nach Spiritualität steigt"). Unter dem Titel "Religiös leben - ein Minderheitenprogramm?" erzählten vier Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Religionsgemeinschaften von ihren Erfahrungen, wenn sie im Alltag in Studium, Arbeit und Privatleben mit ihrer Religiosität konfrontiert werden.
Die "Kommission Weltreligionen" berät den zuständigen Referatsbischof Werner Freistetter und die Bischofskonferenz und steht den Einrichtungen, die auf der diözesanen Ebene im interreligiösen Bereich tätig sind, für Information und Vernetzung der Tätigkeiten zur Verfügung. Die jährlich stattfindende Tagung der Kommission wurde heuer in Kooperation mit St. Virgil Salzburg, dem Institut für Religion und Frieden, der KPH Edith Stein, der Privaten Hochschule Augustinum Graz und dem Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen der Uni Salzburg veranstaltet. (Infos: www.kommissionweltreligionen.at)
Quelle: kathpress