600 Jahre Wiener Gesera: Tück sieht theologisch offene Baustellen
Wenn in diesen Tagen des 600. Jahrestages der Ersten Wiener Gesera im Jahr 1421 gedacht wird - der Vertreibung und Verbrennung von über 200 Menschen auf Erlass Herzog Albrechts V. (1397-1439) am 12. März 1421 vor den Toren der Stadt -, so fällt die Bilanz dazu aus Sicht der katholischen Kirche gemischt aus: Das hat der Wiener Dogmatiker, Prof. Jan-Heiner Tück, in einem Gastbeitrag in der "Neuen Zürcher Zeitung" (25. Jänner) dargelegt. Zum einen wurde insofern aus der Geschichte gelernt, dass es eine "erhöhte Wachsamkeit gegen neu aufkeimenden Antisemitismus" gibt; zum anderen sei die akademische Theologie weiterhin zu theologischer Wachsamkeit aufgerufen, so Tück.
Tatsächlich dokumentiere das Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz "nicht nur das Versagen, sondern auch das Umdenken der katholischen Kirche" in ihrem Umgang mit dem Judentum. So erinnerte Tück daran, dass Kardinal Christoph Schönborn bereits 1998 eine Inschrift anbringen ließ, die die Schuld der Christen an der Ersten Wiener Gesera und an der Judenverfolgung zur Zeit des "Dritten Reiches" öffentlich bekennt. Zudem hatte Schönborn anlässlich des 350. Jahrestages der Zweiten Wiener Gesera (1670) im vergangenen Jahr einen "eindringlichen Brief" an den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, geschrieben und in allen Wiener Kirchen eine eigene Fürbitte verlesen lassen, die den Juden Bestand und Wachstum in Frieden wünscht. Auch bei den jüngsten Attacken gegen Rabbiner hätten sich die österreichischen Bischöfe "umgehend solidarisiert", lobte Tück.
Um diesen Lernprozess auf Dauer zu stellen und auch gegen "periodisch aufflackernde Gewalt gegen Juden" wachsam zu bleiben, brauche es eine öffentliche Erinnerungskultur und "Erinnerungssolidarität". Aus dieser heraus könne sich auch Wachsamkeit "gegen neu aufkeimenden Antisemitismus" speisen, so der Theologe.
"Über öffentliche Schuldgeständnisse und Solidaritätsgesten hinaus" sei dazu auch die akademische Theologie gefordert - etwa wenn es darum gehe, "das klassische Überbietungsdenken zu überwinden". Dazu zählen laut Tück etwa fragwürdige bzw. überkommene Bilder einer "triumphal lächelnden Ekklesia", also eines kirchlichen Dünkels, der auf die überwunden geglaubte Synagoge herabschaut. Eine "ruinöse Wirkungsgeschichte" hätten schließlich auch "Substitutionstheologien" gehabt, "welche die Kirche als das 'neue Israel' profilieren" und die es entsprechend zu überwinden gelte.
"Demgegenüber gilt es heute, die bleibende theologische Würde Israels anzuerkennen und das Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Schulter an Schulter sollten Juden und Christen Zeugnis für den einen Gott ablegen und an die Zehn Gebote als Richtschnur des Handelns erinnern", empfahl Tück. Auf diese Weise könnten sie nicht nur dem Antisemitismus wirksam entgegentreten, sondern gemeinsam "die Hoffnung auf die kommende Welt deutlicher ins Wort bringen, um den flinken Advokaten der Diesseitsvertröstung nicht widerstandslos das Feld zu überlassen."
Am 23. Mai 1420 gab Herzog Albrecht V. den Befehl, alle Juden im Herzogtum Österreich gefangenzunehmen. Das war der Startschuss für eines der dunkelsten Kapitel in der österreichischen Geschichte: die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Wien und Niederösterreich zwischen Mai 1420 und dem 12. März 1421. Es kam zur völligen Auslöschung aller jüdischen Gemeinden und allen jüdischen Lebens im damaligen Österreich (durch Zwangstaufen, Vertreibungen, Plünderungen und Mord). Die "Wiener Gesera" fand am 12. März 1421 mit der Verbrennung der etwa 210 überlebenden Wiener Juden auf der Erdberger Gänseweide - damals noch vor den Toren und Mauern Wiens - ihren Abschluss.
Quelle: kathpress